Raabe eignet sich nicht für den Schnellleser!
Raabe verwendet
viel Zeit für die Darstellung der Charaktere und leuchtet in sehr
viele Details hinein. Er ist ein „Meister der geistreichen
Umständlichkeit“ (Hermann Conradi 1886). Diese Literatur will
erarbeitet werden. Der Gewinn steht immer wieder fest, denn
überraschende Gedanken und scharfsinnige Lebensweisheiten können in
jedem neuen Satz vorkommen. Zum Vorteil ist, dass die Romane in
Abteilungen aufgeteilt sind, was das Durchhalten beim Lesen ungemein
erleichtert, denn es gilt: nicht gleich aufgeben!
In Raabes Zeit existierten noch Fürstentümer nebeneinander und
die sechs „Franzosenkriege“, Revolutionen und Vormärz führten
nicht zur Nation des deutschen Volkes, sondern in ein Kaiserreich.
Obrigkeit, Untertanen, Kriegerkaste, Polizeigewalt, Zensur, soziale
Missstände, unübersehbare Naturzerstörung und die ewig so bequeme
Achtlosigkeit gegenüber Mensch und Natur können Haupttreiber in den
Geschichten sein, mindestens aber werden Hinweise darauf immer wieder
eingeflochten. 20 Jahre nach Raabes Ableben wurden seine Gedanken zur
geeinten Nation, zur Willenskraft des Volkes von den
Nationalsozialisten benutzt. Aber Raabes Volksgedanke wollte eben
auch die Freiheit des Einzelnen und nicht die diktierte Einheit, die
die Nazis in ihrer Volksform für sich propagierten – und
von einer unterstellten antijüdischen Einstellung hat er sich zu
Lebzeiten klar abgegrenzt: „Aus ‚Höxter und Corvey‘ können
Sie wohl entnehmen, daß ich nicht zu den Antisemiten zu zählen bin
…“.
In der heutigen Zeit benutzen wir WESENTLICH weniger Wörter,
um einen Gedanken zu formulieren. Unvorbereitet lernt man sehr
schnell, dass der eigene Wortschatz erweitert wird von Begriffen, die
heute nicht mehr benutzt werden, aber der raabischen Sprache ihre
eigene Poesie verleihen. Neben dem zu entdeckenden altdeutschen
Wortschatz, wird man auch mit englischen, französischen,
lateinischen und griechischen Versatzstücken konfrontiert. Es lohnt
sich also, Lexika dabei zu haben, oder das Internet zur Suche (wer
weiß heute schon, was eine „Orsinische Bombe“ ist? In „Die
Leute aus dem Walde“). Wer sich also auf den Sprachstil des
vorletzten Jahrhunderts einlässt, erfährt tiefgründig viel über
den menschlichen Charakter und dessen Antriebe. Verwirrenderweise
spricht Raabe uns als Lesende immer mal wieder direkt an und
reflektiert listig den Dichter, der den Stift führt. Beileibe nicht
jedes Werk ist ein Meisterstück, aber oft lohnt es sich: man kommt
der Zeit, dem Dichter und häufig genug auch dem eigenen Herzen
näher. Raabe lockt den zeit- und ortsunkundigen Leser in die
Historie hinein, mit einem klaren Blick auf die Angst in der Welt und
benennt immer wieder Tugenden, die den Menschen im Gedränge des
Lebens aufrecht stehen lassen.
Trotz des umfangreichen Versuches Raabes Werke in Gut und Schlecht
zu trennen, entsteht einfach keine klare Übersicht zu seinen Werken.
Urteile sind der Persönlichkeit, der Stimmung oder zeitlicher
Bedingtheit unterworfen – Literatur ist eben nicht klar messbar.
Die hier aufgeführten Literaturkritiken entstammen der sehr zu
empfehlenden „Braunschweiger“ Gesamtausgabe (siehe Hyperlink
unten), die mit ihren kenntnisreichen Erläuterungen den Zugang zum
Werk wesentlich vertieft!
Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke.
Im Auftrag der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft.
Verlagsanstalt Hermann Klemm, Freiburg i. Br. und Braunschweig.
Herausgegeben von Karl Hoppe, dann von Jost Schillemeit.
Die darin enthaltene Buchbesprechungen, die sowohl den Text
bewerten, als auch die Zeit und Raabe charakterisieren, geben uns
einen wertvollen Fingerzeig, welcher Roman wohl der nächste zu
Lesende sein könnte. => Nur zu!
Zur Buchausgabe 1867 von „Abu Telfan“ (alias Bruder Seltsam)
[380 Seiten] erschien in „Über Land und Meer“: „Abu Telfan ist
trotz des fremdländischen Titels kein afrikanischer, sondern ein
deutscher Roman im tiefsten Sinne des Wortes. Der Held, wenn man
diesen tagesüblichen Ausdruck für die Hauptpersönlichkeit eines so
großartigen Kunstwerkes denn einmal gebrauchen muß – kehrt nach
zehnjähriger Gefangenschaft unter einem Negerstamme des Mondgebirges
in das deutsche Vaterstädtchen – nach Nippenburg – zurück.
Damit beginnt das Buch, das allen früheren Werken Raabes an
unübertrefflichem Humor gleichkommt, an tragischer Größe und Tiefe
der ihm zu Grunde liegenden Idee sie jedoch sämtlich, wie überhaupt
alles, was die deutsche Literatur seit Jahrzehnten hervorgebracht
hat, überbietet. Daß dies keine Buchhändlerphrase ist, wird der
Leser, der zum Verständnis wahrer, prunkloser Poesie befähigt ist,
empfinden, wird die deutsche Literaturgeschichte früher oder später
bestätigen. Sie wird Raabes Namen neben denjenigen Jean Pauls setzen
und wird beifügen, daß, während er mit dem letzteren die seltene
Begabung, den Ernst, den Humor, das vielseitige Wissen, den tiefen
Einblick in hohe und niedere menschliche Verhältnisse, und vor allem
die echte, warme Menschenliebe geteilt, er die Fehler des großen
Wunsiedler Dichters, welche das Verständnis desselben nur wenigen
ermöglichen, zu vermeiden gewußt hat.“
Raabe hat an die Veröffentlichung große Erwartungen geknüpft.
Die Aufnahme aber, die Abu Telfan bei seinem ersten Erscheinen fand,
entsprach den hochgespannten Erwartungen Raabes keineswegs. Obwohl
sich außer Wilhelm Jensen auch andere Stuttgarter Freunde wie z. B.
Moritz Hartmann werbend für den Roman einsetzten, begegnete das Buch
nur geringem Interesse. Gewiß nahmen zahlreiche Zeitungen und
Zeitschriften Notiz von ihm, doch daß hier eine ungewöhnliche
Leistung vorlag, wurde fast nirgends erkannt. Volle zwanzig Jahre
vergingen, bis eine neue Auflage zustande kam. Die dritte Auflage kam
1890, die vierte 1901 und zügig fortschreitend wurde 1951 die
siebzehnte aufgelegt.
Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes schrieb 1881
zur Ausgabe von „Das Horn von Wanza“ [182 Seiten]:
„Wilhelm Raabe ist streng genommen der einzige neuere deutsche
Schriftsteller mit echtem gesundem Humor, mit poetischer
Gemütlichkeit … Keiner beleuchtet so wohlwollend, so milde, so
durch Tränen lächelnd …das deutsche Volksleben … Raabe mit all
seinem Hang zur Sentimentalität, seiner poetischen Verklärung und
auch des Niedrigsten und Trivialsten, seiner wortreichen
Gemütlichkeit, ist einer der glänzendsten unter den verschwindend
wenigen deutschen Realisten … Bei aller Unbedeutendheit der
Ereignisse sind die Menschen so packend, so herzgewinnend, daß sich
dreist behaupten läßt: wenn wir Deutschen noch keinen Dickens
haben, so ist es einfach Schuld unserer Blindheit, denn wir gehen
achtlos an einem Schriftsteller vorüber, der die meisten der guten
Eigenschaften der großen englischen Humoristen besitzt und dazu noch
ein gut Teil dessen, was wir an Jean Paul bewundern.“
Beanstandet wird lediglich sein „vielfach gequälter Stil“,
aber auch an ihm, so meint der Rezensent, gewöhne man sich früher,
als man glaube, zumal Raabe immer etwas Originelles, Drolliges oder
Sinniges zutage fördere.
Der Kunstwart 1893/94, von Ferdinand Avenarius über „Kloster
Lugau“ [205 Seiten]:
„Käme Sir Leighton <engl. Maler, *1830> dieses Buch in
die Hand und läse er gar darin die ersten Kapitel, er würde ein gar
wundervolles Beispiel für die ihm so unerfreuliche ‚Sucht‘ der
deutschen Künstler finden, zu ‚verwirren‘ und zu ‚verstecken‘
und durch jedes Ding ein anderes Ding zu zeigen. Und ich gestehe: bis
hart an die Grenze des Erträglichen geht das Heckenbuschartige der
Komposition am Anfange der Geschichte beinah mir selber – das
Suchen nach einem Loch zum Gucken oder gar Einschlüpfen ins Innere
der Geschichte wird zu einer Geduldsprobe, so oft macht sich der
Verfasser mit uns ein Späßchen. Sind wir aber glücklich drinnen
und überblicken wir nun als geborgene Leute die Anlage der
‚Schutzhecke‘ vom Innern aus, so freuen wir uns des lustigen Hin
und Her, das uns selber nun nicht mehr schaden, das uns gleichsam nur
behüten kann vor dem Zudrang der lästigen Menge; wie in kleiner
erlesener Gesellschaft fühlen wir uns mit dem Dichter zusammen, und
vergnüglich ist es jetzt, mit ihm in der kleinen Welt seines Heims
das Bild der großen Welt draußen zu beschauen, zu belachen, zu
belächeln.“
Die „Blätter für literarische Unterhaltung“ betonten 1870 zu
der Erzählung „Nach dem großen Kriege“ [135 Seiten], daß
„durch das ganze Büchlein die poetische Anschauung mit der
tüchtigsten Gesinnung Hand in Hand“ gehe, erklärten aber zugleich
auch: „Mitunter allerdings ist doch die Romantik auf die Spitze
getrieben, und für ein kritisches Auge finden sich
Unwahrscheinlichkeiten und Gewaltsamkeiten, aber wir haben es weniger
mit einer Erzählung, als mit einer poetischen Darstellung zu tun“.
Als man sich nach dem 70.zigsten Geburtstag Raabes eingehender mit
seinem Werk befaßte, fand die Erzählung eine Anzahl sehr warmer
Fürsprecher.
„Ein starkes Heimatsgefühl und eine innige Liebe zum
Vaterlande“, aber auch die große Kunst, „eine vergangene Zeit
treu und zugleich lebendig, nicht als Historiker, sondern als Dichter
zu schildern“, wurden ihr vornehmlich nachgerühmt (Rein.-westfäl.
Zeitung, 8.9.1901.
Th. Kappstein hob im Berliner Tageblatt 7.9.1901 hervor: in der
„lieblichen Mädchengestalt Anna von Rhoda …hat er seinem Volk
im sinnigen Bild gezeigt, was er von ihm hält, und was er für es
hofft“.
In der Mischung von romantischer Stimmung und nationaler Haltung
sah die überwiegende Zahl der Beurteiler das Charakteristische des
Werkes.
Das 1861/62 durchgefallene Werk „Unseres Herrgotts Kanzlei“
[140 Seiten] fiel bei der 2. Auflage in die Blütezeit des
historischen Romans. Sie fand deshalb mehr Interesse, zumal auch der
Verfasser bekannter geworden war. Die „Blätter für literarische
Unterhaltung“ brachten abermals eine Rezension, diesmal (1889) von
Wilhelm Brandes, die das Hauptverdienst des Buches in den
farbenreichen Schilderungen sieht, in der Mannigfaltigkeit der
zeitgenössischen Typen und in seiner jugendlichen Frische. Die
Besprechung in den „Grenzboten“ 1890 kommt trotz des Tadels wegen
zu engen Anschlusses an die Quellen zu dem Ergebnis, daß sich Raabes
ursprüngliche, echt künstlerische Gestaltungskraft kaum irgendwo so
mächtig offenbart habe wie in dieser geschichtlichen Erzählung.
Buchhändler Otto Janke aus Berlin erwarb die Verlagsrechte an
„Der Hungerpastor“ [460 Seiten] auf 5 Jahre sowohl für den
Journalabdruck in der neu zu begründenden „Deutschen Romanzeitung“
in Berlin wie für die Buchausgabe 1863/64. Janke hatte damit solchen
Erfolg, dass die Zeitung eine tragende Grundlage bekam. Den besten
Ausdruck für die still in die Breite wirkende Ausstrahlung des
Romans, seine Volkswirkung im besten Sinn, hat wohl damals
Freiligrath gegeben, im Brief vom 9. Oktober 1868 an seine Tochter in
London, aus Cannstatt bei Stuttgart:
„Bei dieser Gelegenheit will ich Dir auch einen Roman empfehlen,
den Mama und ich mit größtem Genusse jüngst gelesen haben. Er
heißt ‚Der Hungerpastor‘ und hat zum Verfasser Wilhelm Raabe,
einen in Stuttgart lebenden jüngeren Schriftsteller, der sich seit
kurzem einen Namen gemacht hat. Das Buch ist vortrefflich – sehr
unterhaltend, aber doch keins von den Büchern, die man bloß um der
Unterhaltung willen liest, vielmehr eins von denen, die den Leser zur
Einkehr in die eigene Brust zwingen, und von denen man ernster und
doch fröhlicher aufsteht und wieder an sein Tagewerk geht.“
Ein besonderer Triumph für die Volkswirkung des „Hungerpastor“
wird es, als die junge naturalistische Generation in ihrer
Zeitschrift „Die Gesellschaft“ folgende Besprechung des Buches
von W. Knodt bring (1899):
„Dies Buch hat wie keins meinen tiefsten Hunger, meine ganze
Sehnsucht nach der großen, freien, schönen Ewigkeit geweckt …
Keine faustdicke Tendenz. Weh und Heimweh sind die Grundtöne des
Hungerpastors. Kein moderner Schriftsteller oder der ‚Moderne‘
angehörig, doch nichts weniger als unmodern oder gar antiquiert. Er
hat und weckt das goldene Heimatgefühl, das ein ewiges und speziell
ein urdeutsches Gefühl ist. Der Sinn des Buches: selig sind, die da
hungert nach Gerechtigkeit, sie sollen satt werden. In der Art und
Weise, wie der Hunger sich in den einzelnen Personen ausspricht,
leuchten alle Eigenschaften der Raabeschen Schriftstellerkunst
hervor: vor allem seine ernste, zuweilen herbe Lebensanschauung und
tiefe Schwermut, kein Schopenhauerscher Pessimismus, sondern
Erkenntnis, daß der tiefste Hunger nicht in dieser Welt gestillt
werden kann. Heiliger Humor, geboren aus dem Blick aufwärts. So
traumhaft manches bei Raabe ist, so lebenswahr sind und wirken alle
Gestalten in diesem Buch.“
Die Verhandlungen zur Veröffentlichung des „Schüdderump“
[380 Seiten] gestalteten sich zeitraubend und entmutigend. Der „Über
Land und Meer“ Verleger E. Hallberger wollte den Text zuerst des
großen Umfanges wegen nicht in seinem Journal verwenden, da dort
„vor Allem lebhafte, spannenden Handlung nöthig“ sei. In einem
zweiten Anlauf verzögerte er die Rückmeldung und schrieb
schließlich:
„...anderntheils schien mir… der ‚Schüdderump‘ von einer
so tief tragischen, düsteren Grundstimmung, daß mir ein Erfolg beim
g r o ß e n P u b l i k u m etwas fraglich wurde. Ich verkenne nicht
die hohen und eigenthümlichen Schönheiten des Werkes und es ist
leicht möglich, daß ich den schwarzen Schleier, der auf dem Buche
liegt, etwas zu schwarz sehe; aber in der Stimmung, in die es mich
versetzte, wollte nun einmal keine rechte Unternehmungslust
gedeihen.“
In Westermanns „Illustrirten Deutschen Monatsheften“ gelang
dann die erste Ausgabe. Ein hitziger, letztlich unbegründeter Zwist
um das Honorar begleitete die Buchausgabe. Wilhelm Jensen besprach
den „Schüdderump“ in der Nationalzeitung vom 18. Juni 1870 und
zollte ihm höchste Anerkennung. Er hob ihn aus der Ebene der
zeitgenössischen Literatur als ein Werk von klassischer Größe
heraus, wobei er sich nach seiner Art einer mehr bilderreichen und
gefühlsbetonten, als sachlich charakterisierenden und gedanklich
gehaltvollen Sprache bediente. An den Schlusssatz des Romans
anknüpfend, nahm er den „Hungerpastor“, „Abu Telfan“ und den
„Schüdderump“ als eine Trilogie und sagte über sie u. a.:
„Sie haben jetzt und werden für immer nur ein engumgrenztes
Publikum besitzen. Sie wollen nicht nur durchdacht, sie wollen in den
Schauern, die sie durchrütteln, mitempfunden werden. Eine stumme,
titanenhafte Anklage liegt in ihnen, ein Schrei, der nicht
hervorbricht, sondern nach innen gewendet die edlen Organe des Lebens
ertötet, eh er die Brust zersprengt, ein ‚Kampf um‘s höhere
Dasein‘, der seinen Lohn in dem hoffnungslosen Kampf, nicht in der
Erreichung seines Zieles finden muß. Solche Bücher kann nur ein
deutscher Dichter schreiben, und nur deutsche Leser können sie
verstehen. Ihrem Tiefsinn widerspricht jeder Effekt, er gleicht der
Einfachheit der Natur, die um so mehr ergreift, je weniger eine
menschliche Hand an dem geheimnisvollen Zauber ihrer Wirkung Anteil
zu haben scheint. Doch in der Geschichte der Empfindung, der
Lebensauffassung deutschen Gemütes wird diese Trilogie Wilhelm
Raabes nicht untergehen. Sie wird wie jene Eichen sein, um die
rastlos das lebensfreudige vergängliche Gezweig des Waldes sich
erneuert, während sie noch nach Jahrhunderten mit ihren dunklen,
rätselhaften Wipfeln zum Himmel aufrauschen.“
Neben anderen, zutiefst ablehnenden Besprechungen wurde in der
Leipziger Illustrirten Zeitung, 1871 der „Schüdderump“ als die
„dichterisch gehaltvollste und bedeutungsvollste Erscheinung der
Romanliteratur nächst den Spielhagenschen Romanen“, als „eins
der originellsten und ergreifendsten Bücher des Verfassers“
bezeichnet.
„Gegen die an Jean Pauls Manier gemahnende subjektive
Formlosigkeit desselben kann man sicher ernste Bedenken hegen, aber
eine Fülle wirklichen Lebens, echten Empfindens, ein Reichtum von
Gestalten und Situationen ist in den Romanen Raabes unleugbar
vorhanden. Die stark an Pessimismus streifende Lebensanschauung des
Verfassers gibt seinen neusten Erfindungen leicht eine graue, düstere
Färbung, und doch fühlen wir nicht nur die schmerzliche Möglichkeit
und Wirklichkeit, nein auch die tiefste Wahrheit solcher
Lebensbilder, wie sie der Schüdderump an uns vorüberollt.“
Die Veröffentlichung der Erzählung „Frau Salome“ [95 Seiten]
begegnete keinen Schwierigkeiten. Sie war für Westermanns
Monatshefte von vornherein bestimmt gewesen. Ein öffentliches Echo
blieb aus. Das war angesichts eines Zeitschriftenbeitrags nur
natürlich. Erst gelegentlich der Herausgabe der Krähenfelder
Geschichten nahmen einige literarische Zeitschriften von dem Werk
Notiz.
Die Veröffentlichung der Erzählung „Die Innerste“[95 Seiten]
erfolgte in Westermanns Monatsheften im Juli 1876. Öffentliche
Beurteilung wurde der Erzählung erst in den Besprechungen der
Krähenfelder Geschichten zuteil.
Im Dezemberheft von Westermanns Monatsheften wurde die
Hochsommergeschichte „Vom alten Proteus“[93 Seiten] publiziert.
Öffentlich besprochen wurde siw erst nach dem Erscheinen der
Krähenfelder Geschichten.
Die Rezensionen über die „Akten des Vogelsang“ [200 Seiten]
waren im ganzen positiv, man lobte den Roman z. B. als „eine
gemütvolle poetische Dichtung“, die man nicht, wie hunderte
anderer Romane, schnell wieder vergesse. Willy Rath:
„Ein ganzes, eigenartiges Stück Welt zaubert der alte Meister
durch das Medium dieses geborenen Chronisten Krumhardt wieder hervor.
Der ganze ‚Vogelsang‘ steht vor uns, lebendig, sonnig, vertraut
wie nur ein Stück unsrer eigenen Jugend. Es ist die patriarchalische
Idylle von der Nachbarschaft, aus niederen Häuschen und bescheidenen
Gärten mit blühenden Hecken von Haus zu Haus, aus kleinen Sorgen
und wohltemperierten Freuden der Familie, aus thörichten
Jugendstreichen und thörichteren Träumen wunderbar zart und wahr
zusammengefügt, vom warmen Lebenshauch des Gemüts durchdrungen, von
der heiteren Sonne wahren, erhabenen und erhebenden Humors freundlich
beschienen. Die großen, die ganzen Dichter haben abseits von aller
Theorie immer schon in ihren Werken das Gute und Dauernde dessen
bestätigt, was in wechselnden Formen zu verschiedenen Zeiten wieder
und wieder als gänzlich neu und allein seligmachend verkündet wird.
Hat erst das große, und sicher nicht ganz unberechtigte, Geschrei
vom Wert des Milieus, der Stimmung und der Charaktere diesen einsamen
Alten von Braunschweig das Geheimnis seiner Kunst gelehrt? Wahrlich
nicht! Und doch ist dieses Milieu – das durch die Fäden, die den
Vogelsang mit Amerika verbinden, einen großen Hintergrund gewinnt –
so fein und plastisch gegeben, wie es der berühmten naturalistischen
Methode selten gelingt. Die Stimmung läßt uns nicht einen
Augenblick aus ihrem Bann.“
Robert Lange besprach in den Blättern für literarische
Unterhaltung, 1895, unter dem Titel „Vom jungen und vom alten
Raabe“ zunächst den ungefähr gleichzeitig erschienen 1. Band der
„Gesammelten Erzählungen“, für den er gern sonstige
Neuerscheinungen und „ein Dutzend ägyptische oder
Völkerwanderungsromane obendrein“ dahingeben wolle, obgleich er
doch vor der „durchweg düstern, elegischen Stimmung“ dieser
Jugendarbeiten warnen zu müssen glaubte, und fuhr dann fort:
„Einen vollen und uneingeschränkten Genuß aber versprechen wir
dem Leser von W. Raabes neuestem, soeben erschienen Romane ‚Die
Acten des Vogelsang‘. Hier tritt uns der Dichter als derselbe
entgegen, wie er uns im ‚Hungerpastor‘, in den ‚Alten Nester‘,
im ‚Deutschen Adel‘ gerührt und erschüttert, erhoben und
begeistert hat.“ Nach Andeutung des Handlungsverlaufs heißt es
dann von Velten Andres: „So vollendet sich das Bild dieses trotz
aller Schwächen so liebenswerthen, prächtigen Menschen, der nichts
geworden ist, nichts erreicht hat, wie die Welt sagt, und den man
doch um sein Dasein beneiden möchte.“
Obwohl sich der Verleger Grote um einen guten Start des „Horacker“
[165 Seiten] bemühte, war der buchhändlerische Erfolg nicht
überwältigend. Zwar fand das Werk die begeisterte Zustimmung Paul
Heyses, 1876, aber auch Heyse muß Raabe gegenüber feststellen:
„Wenn wir eine Kritik hätten, die ihr Handwerk verstünde, so
hätten Sie längst so viel Dank dafür, daß Ihnen an einem
Beifallsruf mehr nicht viel gelegen sein könnte.“
In der Tat verzeichnet das Tagebuch bis dahin nur die Besprechung
in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, 1876, die recht anerkennend
war (gemütstief, lebenswarm, Laune und Geschick). Doch hatten auch
die Kreuzzeitung, das Frankfurter Journal und die Braunschweiger
Anzeigen sehr anerkennende Besprechungen gebracht. Die Rezension im
BS Tageblatt befriedigte Raabe nicht – mit Grund, denn sie
empfiehlt zwar das Buch als
„drollige Erzählung, dem Besten von Fritz Reuter an die Seite
zu stellen“, aber viel umfangreicher sind die Ausstellungen, die
vor allem die zu große Zahl der Exkurse und die Länge, Unklarheit
und schwere Verständlichkeit der Parenthesen beanstanden.
Voll höchsten Lobes ist dagegen die Besprechung von Schrattenholz
in: Deutsche Dichtung. Vierteljahresschrift für Dichtkunst u.
Kritik, 1877. Sie nennt das Werk „wirklich genial“, bezeichnet
Raabe als „einen der besten unserer Humoristen“ und würdigt
Komposition und künstlerische Eigenart ausführlich positiv.
Trotzdem beklagt Raabe, der „Horacker“ werde totgeschwiegen, und
verweist als Beweis auf die „Blätter für litterarische
Unterhaltung“, die in ihrer Jahresübersicht für 1876 den
„Horacker“ nicht mit aufführten und erst am 14.4.1877 eine kurze
Anzeige brachten. Erst nach der Jahrhundertwende, als Raabe sich
allgemein durchsetzte, wurde auch der „Horacker“ häufig
gedruckt.
Obwohl Raabe wußte, daß sich seine Romane nicht für einen
Abdruck in der Tagespresse eigneten, ließ er sich durch wiederholte
Bitten Oskar Blumenthals verleiten, diesem die „Alten Nester“
[263 Seiten] für das „Berliner Tageblatt“ anzubieten. Die Folge
war, daß er die gleiche Enttäuschung erlebte wie seinerzeit mit dem
Schüdderump. Nun hatte Blumenthal in seinem Brief vom 5. Januar 1879
nur an eine kleine Skizze im Umfang der zuvor angenommenen
Silvestergeschichte „Auf dem Altenteil“ gedacht; auch führte er
für seine Ablehnung Gründe an, denen eine Berechtigung nicht
abzupsrechen ist. Er schrieb:
„Noch niemals habe ich ein Manuskript mit so schwerem Herzen
abgelehnt, wie Ihren Roman, denn ich weiß, daß ich eine feine
liebenswürdige fesselnde D i c h t u n g aus der Hand gebe. Aber ich
brauche Ihnen kein Wort über die barbarischen Forderungen des F o r
t s e t z u n g s - Romans zu sagen. Diese Art der Veröffentlichung
– vielleicht eine Mißgeburt unserer grobhäutigen Zeit – bedingt
starke stoffliche Reizungen, die von Tag zu Tag das ungeduldige
Interesse der Leser mit immer erneuten Sporenstichen weitertreiben.
Bei Ihren ‚Zwei Büchern Lebensgeschichten‘ liegt der Hauptreiz
aber in den feinen Stimmungsfäden, mit welchen Sie uns leise und
allmählich umspinnen – in der subtilen scharfsinnigen Art, mit der
Sie Menschen und Dinge schildern. Dies Buch ist gleichsam mit zu
leiser Stimme erzählt, um in dem wirren Geräusch eines täglichen
Blattes Gehör und Verständnis finden zu können...“
Das erste Urteil, das über den Roman zu Raabe drang, lautete
ermutigend. Paul Heyse schrieb ihm:
„Ich habe eben ein paar Stunden am Waldrand in der Hängematte
gelegen... Da las ich die letzten Kapitel Ihrer ‚Alten Nester‘,
und es stieg und schwoll mir immer wärmer und wohliger zum Herzen
und gegen die Augen und: diesmal, sagt ich mir, schreibst Du‘s ihm
aber, was er für ein begnadeter Mensch ist und wie er so mit vollen
Händen zu geben weiß, daß man immer nur Not hat, alles in Empfang
zu nehmen! - Und nun sitze ich hier und überlege, daß mir alle
schriftliche Arbeit streng verboten ist … Also wird es kein Brief,
liebster Raabe, sondern nur der kurz und gute Händedruck und ein
Vergelt‘s Gott tausendmal. Es ist von Ihrem Allerschönsten,
Reinsten, Besten und Innigsten, und ich staune nur immer, in wie
gleicher, nie absinkender Kraft und Fülle das alles aus Ihrem lieben
Gemüte quillt. Ich habe mehr als einmal vor purem Vergnügen an
Ihren Leuten und Ihnen mich über nassen Augen ertappt und bin doch
ein hartgesottener alter Sünder... Leben Sie wohl! Und freuen Sie
sich nur halb so sehr Ihrer selbst, wie ich es eben wieder getan, so
sind Sie einer von den glücklichsten Menschen.“
Weniger zustimmend äußerte sich der Züricher
Literaturhistoriker J. J. Honegger in den Blättern für literarische
Unterhaltung 1880. Empört war Raabe über eine „dumme“
Besprechung in der Wiener Neuen Freien Presse 1880 und freute sich um
so mehr über anerkennende Kritik. So schrieb er 1891 dem Bankier S.
Schott: ‚Die ‚Alten Nester‘ bitte ich langsam und mit Bedacht
zu lesen. Das Buch ist eines meiner besten und völlig bei seinem
Erscheinen in der Welt zu Tode gefallen. Und 1902 an den Verlag Otto
Janke: „Die ‚Alten Nester‘ dürfen natürlich nicht ausgehen im
Handel: das Werk gehört zum eisernen Bestande der deutschen
Literatur“.
Raabe sah 1872 der Aufnahme des Buches „Der Dräumling“ [197
Seiten] mit zwiespältigen Gefühlen entgegen. Tatsächlich schrieb
ihm Jensen:
„Den feinen Humor vieler, sehr vieler Stellen finde ich
vorzüglich, doch ich vermisse einen bedeutsamen Grundgedanken, wie
er Deine letzten Bücher beherrscht. Das Leben ist allerdings ein
Dräumling, auch dasjenige, das aus seinen mehr oder minder
flugkräftigen idealen Gedanken stets mit den Schwingen wieder zum
Herab- und Eintauchen in den Sumpf genötigt wird – so fasse ich
die Idee des Ganzen auf –, allein dieser Gedanke von nachdenklicher
Ernsthaftigkeit kommt mir fast nur von seiner komischen Seite zum
Ausdruck, oder liegt unter dem Lächerlichen so verschleiert, daß er
dem Leser kaum zum Bewußtsein gelangt“.
Bei der öffentlichen Kritik fand der Roman nur mäßige
Beachtung. Der Roman, als objektives dichterischen Gebilde
betrachtet, bereitet dem Leser Schwierigkeiten. Erst in seine
Beziehung zu Raabes Entwicklung in Kunst- und Lebensauffassung (Umzug
nach Braunschweig, politische Ernüchterung, Kriegswirren 1860er)
gesetzt und als Selbstzeugnis Raabes verstanden, offenbart er einen
tieferen, über den Begriff einer heiteren Posse hinausweisenden
Gehalt. Die Raabeforschung ist, nach dem Voraufgang von W. Brandes
besonders durch W. Fehse, diesen Weg gegangen, ohne dabei allerdings
zu einer übereinstimmenden Auffassung vom Sinn und Wert der Dichtung
zu gelangen.
Das Echo, das der Roman „Christoph Pechlin“ [248 Seiten]
in der Kritik fand, mußte bescheiden ausfallen. Westermanns
„Illustrirte Deutsche Monatshefte“, mit Raabes Schaffen eng
verbunden, brachten im Maiheft 1873 nur einen knappen Hinweis auf den
Roman,
„der an toller Ausgelassenheit und wahrhaft drolliger Conception
wohl seines Gleichen suchen dürfte. Wer sich eine heitere Stunde
verschaffen will, wird durch die Lectüre dieser Liebesgeschichte,
die eigentlich keine ist, seinen Zweck erreichen.“
Die „Konservative Monatsschrift“ findet die Helden des Buches
„wegen Mangels an sittlicher Individualität zu tiefer Anteilnahme
nicht herausfordernd“. Ohne „mit einem weniger geratenen Kinde
seiner <Raabes> Muse übermäßig ins Gericht gehen“ zu
wollen, kommt der Rezensent doch zu dem Ergebnis: „Man würde den
Christoph Pechlin unter Raabes Werken nicht eben sehr vermissen.“
Kritisch, aber doch wohlwollend schrieb die „Illustrirte
Zeitung“ 1873:
„Für den Liebhaber toller, abenteuerlicher und derbkomischer
Geschichten, über deren innere wie äußere Wahrscheinlichkeit er
nicht weiter nachgrübeln will, eine amüsante Lectüre. Zuweilen
ermüdet eine allzubehagliche Breite, und die Charakteristik der
Figuren streift etwas bedenklich auf das Gebiet der Caricatur
hinüber; aber das ist wie bei einer derbausgeprägten Posse: die
meisten lachen am Ende doch und der Autor, welcher zum Lachen zwingt,
hat sich allemal den Dank seiner Leser oder Zuhörer erworben.“
Die Veröffentlichung von „Wunnigel“ [165 Seiten] vollzog sich
ohne Schwierigkeiten und wurde von der Presse1879 freundlich
aufgenommen. So schrieb die belletristische Wochenschrift „Europa“:
„Wilhelm Raabe ist ein Meister der Charakterzeichnung und des
liebevoll ausgearbeiteten Details. Seine Helden sind meist
Sonderlinge, die er mit einer Lebenswahrheit darzustellen versteht,
daß man meint, ihnen schon einmal begegnet zu sein. Figuren wie der
Rottmeister und der Regierungsrat in ‚Wunnigel‘ . . . sind wahre
Kabinettstücke dieser Art, die sich der Phantasie des Lesers aufs
tiefste einprägen.“
Die Leipziger „Blätter für literarische Unterhaltung“
schrieben:
„Am liebsten sucht Raabe sich seine Helden unter den sogenannten
Originalen, solchen Menschen, deren Charakter und Bestrebungen noch
nicht von der traditionellen Sitte und Gewöhnung abgeschliffen
worden sind, die ihre besondern krausen Wege gehen, Chimären
nachjagen, die von der gebildeten Welt längst als solche erkannt
sind, dabei aber stets einen Überschuß quellender Lebenslust und
Kraft besitzen, der nicht von den gewöhnlichen Sorgen des
alltäglichen Lebens aufgezehrt wird. Solche Originale werden von
Raabe meistens unübertrefflich dargestellt; in ihnen kann er
kräftige Naturen schildern und zugleich die allgemeine Planlosigkeit
des menschlichen Wirkens und Strebens widerspiegeln. Der alte
Regierungsrat Wunnigel, welcher Antiquitäten und den närrischsten
Phantasiebildern nachjagt und dadurch in Konflikt mit den
Anschauungen und Anforderungen der Welt gerät, ist eine der besten
und lebensvollsten Charaktertypen, die uns Raabe seit langem
gezeichnet hat.“
Die Aufnahme die das Buch „Deutscher Adel“ [260 Seiten] fand,
war für Raabe unbefriedigend. Als Beispiel mag die Besprechung
dienen, die der Züricher Literaturhistoriker J.J. Honegger in den
Blättern für literarische Unterhaltung 1880 zuteil werden ließ.
„Wie sehr ich mich anstrenge, nach dem Tenor der ganzen
Erzählung könnte ich ihm keine auch nur entfernt zutreffende
Bedeutung unterlegen als etwa die, daß überhaupt deutsches
Gemütsleben gefeiert und dieser innere Adel echt deutschen Geistes
und Charakters zur Darstellung gebracht werden sollte. Aber erstens
ist das doch auch zu verschwommen, um dem ganzen Büchlein die
zutreffende Signatur zu geben, und Dutzende von Romanen und Novellen,
die deutsches Leben zu Grunde legen, möchten sich mit genau dem
gleichen Recht so nennen; zweitens aber, und das ist noch
entscheidender, sind die Charaktere und Situationen samt und sonders
nicht stark, nicht eindrucksvoll genug, um als etwas Hervorragendes
zu gelten. Hat Raabe auch früher schon die besondere Manier
entwickelt, nur wenige Handlung zu geben und überhaupt seine Gebilde
und Einfälle nur an einem äußerst losen Band anzureihen, so ist
das hier vollends ohne Maß und Ziel geschehen; ein Band finden wir
gar nicht mehr, alles bröckelt uns unter der Hand auseinander …
Weder werden mir die Personenbilder klar noch die gegenseitigen
Beziehungen und Situationen, und vollends seine Lebensanschauung, in
bizarren, zusammenhangslosen, launisch springenden Sätzen
hingeworfen, guckt uns als etwas ganz besonders Seltsames an, aus dem
wir um keinen Preis klug werden.“
Erst nach Raabes Tod erschien die Erzählung „Der gute Tag“
[135 Seiten] in der christlichen Familienwochenschrift „Daheim“,
allerdings unter Weglassung oder Abänderung aller Stellen, die als
anstößig empfunden wurden, wobei ein äußerst engherziger Maßstab
zur Anwendung kam. Bei dem Text handelt es sich um eine heitere
Geschichte von dem guten Tag, den sich eine boshafte jüngferliche
Hausbesitzerin von ihren Möglichkeiten zur Mieterhöhung am
Quartalswechsel verspricht und der ihr letzthin die verdiente
Enttäuschung bringt.
Zu der kurzen Erzählung „Auf dem Altenteil. Eine
Sylvestergeschichte“ [13 Seiten], die 1878 im Deutschen
Montagsblatt erschien, schrieb Chefredakteur R. Levysohn:
„Herzlichsten Dank für Ihren prächtigen Beitrag, von dem ich
mir bei meinem Leserkreis unendlich viel verspreche. Ihr
Stimmungsbild ist köstlich, heiter und rührend zugleich, und so
haben Sie mich durch dieses Manuscript noch tiefer in Ihren Bann
geschlagen.“
Der Roman „Meister Autor“ [155 Seiten] sollte 1873
ursprünglich in der Zeitschrift „Über Land und Meer“
erscheinen, jedoch kam das Manuskript zurück zu Raabe mit der
Einschätzung:
„zu hoch für sein großes und gemischtes Publikum … man müsse
sich erst in die richtige Stimmung hineinlesen - - - so möchte mein
Herr Chef lieber von der Erwerbung dieser Arbeit, deren inneren Wert
er gewiß nicht unterschätzt, absehen, indem er die freundliche
Bitte an Sie richtet, Anderes, Kürzeres, namentlich Humoristisches
zu senden.“
Die Erzählung erschien schließlich als Buch, fand eine zwar
wohlwollende, aber der Bedeutung des Werkes nicht gerecht werdende
Aufnahme. So urteilten die „Blätter für literarische
Unterhaltung“ 1874:
„Originelle und mit scharfen Konturen ausgeführte Gestalten,
Situationen und Szenen aus dem trivialsten Leben …, aber alles aufs
beste und mitunter sogar spannend erzählt und ein warmer Hauch
wahrer, d. h. ungekünstelter Poesie über das Einzelne und das Ganze
hinwehend – das ist unsere Charakteristik dieses Werks und unser
Lob desselben.“
In der Zeitschrift „Über Land und Meer“ erschien eine
Besprechung, in der die realistische Gestaltung der Charaktere
hervorgehoben wurde, jedoch die von Reflexionen durchsetzte Handlung
nur wenig Beifall fand:
„Voll Poesie zwar, aber doch recht seltsam ersonnen … Die
Fabel spielt sich gar zu traumhaft ab. Der poetische Wert dieser
Arbeit des stets interessanten und fesselnden Meisters ist sehr
bedeutend – wer aber eine gut angelegte, klar und ruhig ausgeführte
Erzählung sucht, dürfte hier wenig befriedigt werden. Es ist eben
eine Erzählung für die Kenner Raabes.“
Von allen Erzählungen der Krähenfelder Geschichten hat ohne
Zweifel „Zum wilden Mann“ [100 Seiten] das meiste Aufsehen
erregt, zumal nach dem Erscheinen der Reclam-Ausgabe. „Keine meiner
Romane und Novellen hat mir so viel Anfragen, Be- und Verurteilungen
eingetragen als die Erzählung ‚Zum wilden Mann‘. Diese Worte
sprach der Dichter eines Abends, als wir im Kreise einiger Bekannten
saßen.“ So hebt eine Besprechung de „Wilden Mann“ an, die Otto
Elster im „Braunschweiger Tageblatt“ vom 23.7.1885 veröffentlicht
hat. Die folgenden Sätze Elsters machen deutlich, von wem diese Be-
und Verurteilungen stammten: von denen, die mit Raabes Freund Jensen
einer Meinung waren, von den Verehrern Raabes, auf deren „fast
einstimmiges Urteil“ sich Jensen in seiner betont negativen
Besprechung („es habe nichts Erhebendes und verleite zum
Widerwillen gegen das ganze Menschengeschlecht; müsse polizeilich
verboten werden“) berief. Zwar sagt Elster, daß der Dichter auf
eine Erwiderung verzichtet habe, doch müssen wir annehmen, daß das,
was Elster zur Rechtfertigung der Erzählung vorträgt, die Billigung
des Autors fand. In der Figur Mördling-Agonistas verkörpere sich
der Selbsterhaltungstrieb des Menschen, die naive Rücksichtslosigkeit
dessen, der leben will. Kristeller dagegen, der nicht nach Schätzen
strebe, die Motten und Rost fressen, habe in der Selbstaufgabe ein
höheres Lebensideal gefunden, sei von „Wahrem Idealismus“
beseelt. Ein Rezept also zur Beurteilung des Werkes für die
Idealisten unter Raabes Verehrern, eine Anleitung, die auch
christlicher Ethik gerecht wird? Jedenfalls hat diese Auslegung alle
späteren Deutungen der Erzählung mehr oder weniger bestimmt.
Westermanns Monatshefte veröffentlichten „Höxter und Corvey“
[95 Seiten] und „Eulenpfingsten“ [95 Seiten] aber den
Zeitschriftenbeiträgen wurde keine öffentliche Besprechung zuteil.
Das erste Echo auf die „Leute aus dem Walde“ [425 Seiten]
erreichte Raabe noch während der Arbeit am Roman. Adolf Glaser
konnte dem Freunde am 17. Oktober 1862 verraten, daß ihm der Roman
sehr gefalle und daß „das Haus Westermann“ ihn für Raabes
bestes Werk halte. Gewichtiger ist das Urteil des Historikers und
Journalisten Thaddäus Lau, in einem Brief an Raabe. Lau meint, daß
er, von der Seite der Komposition her, die „Kanzlei“ über die
„Leute“ stelle; der erste Band sei zwar „unübertrefflich,
hinreißend, von wahrhaft überwältigender Wirkung“, dagegen falle
der dritte ab und müsse abfallen: „Man darf auf dem Markte der
Welt nicht Silber bieten, wenn man von vorneherein die Menschen mit
Zahlungen in Gold verwöhnt hat.“ Die „reizende Schilderung des
Hauses in der Musikantengasse“ gemahne ihn an die „lebensfrische
Naturwahrheit“ der „Chronik“, und in der Gestalt des Ulex
glaube er den Ostermeier des „Frühlings“ wiederzuerkennen; die
Gestalt des lahmenden Freifräuleins fände er „ganz originell,
ausdrucksvoll und ungemein ansprechend“.
In der „Wochenchronik“ Nr. 19 der „Europa“ mischt die
Rezension Lob und Tadel. Es wird Raabe bestätigt, daß seine
„besondere Begabung“ ein Malen „mit den Wasserfarben der
Gewöhnlichkeit“ nicht zulasse; er sei „ein Original“, und
darin lägen seine Vorzüge und seine Schwächen. Die Originalität
der mitunter „argen Sonderlinge“ arte in „Manieren“ aus, der
Autor kümmere sich nicht um Regel und Gesetz, indem er „nach
souveräner Willkür“ erfinde und schildere „was und wie es ihm
gerade paßt“. So entstünden „Sprünge und Lücken“; einmal
schreite die Handlung „langsam und stetig und dann wieder
ruckweise“ voran. Diese „formlose Schilderung“, von der Raabe
ernstlich abgeraten wird, teile sich auch den Charakteren mit, deren
viele auf dem schmalen Grenzpfad zwischen Originalität und Karikatur
wandelten; manche aus der reichen Galerie von Originalen wirkten
geradezu wie ein „Geisterspuk“. Aus diesem Nebel blicke aber
wieder „ein mildes, seelenvolles, träumerisches Auge voll schöner
Menschlichkeit“. Besonders hervorgehoben werden die Gestalten der
jüngeren Frauen: Eva Dornbluth und Helene Wienand; sie seien „zwei
der reizvollsten weiblichen Gestalten … in unserer neuesten
Romanliteratur“. Freilich sei es eine „Caprice“ des Dichters,
daß er Eva in Kalifornien am gelben Fieber sterben lasse; das sei
Vernichtung des Werkes und Verunzierung der „gelungensten
Zeichnungen“.
„Zu meinem großen Bedauern muß ich mich nun freilich doch
entschließen, Ihre Novelle zurückzugeben. Bis dahin, wo es in
Pfister's Mühle übel zu riechen beginnt, war alles gut gegangen;
aber über diesen Punkt konnte ich nicht fortkommen, soviel Schönes
auch gerade noch die späteren Capitel enthalten. Es mag ein
Vorurteil sein; aber es erging mir beinah ebenso, wie dem alten,
braven Müller, dessen Figur so trefflich gelungen ist – ich spürte
zuletzt nur noch diesen fatalen Geruch, der mir die Freude an
Pfisters Mühle verdarb. Es soll damit nicht gesagt sein, daß jeder
so denken und fühlen wird, wie ich; andre mögen anders empfinden,
da das, was Sie darstellen, unzweifelhaft eine Tatsache des
wirklichen Lebens ist und als solche vielleicht das Recht hat,
dargestellt zu werden. Aber in Sachen des Geschmacks ebenso wie in
denen der Moral, darf, nach meiner Meinung, der verantwortliche
Herausgeber einer Zeitschrift so wenig wie möglich riskieren; um so
weniger, als in dieser Art der Publikation der unangenehme oder
zweifelhafte Eindruck nicht durch die rasche Folge neuer Eindrücke
ausgeglichen, sondern durch den Zwischenraum von Wochen noch
gesteigert wird. Diese Gründe haben mich bestimmt, Ihre Novelle
abzulehnen, die mir im Übrigen viele hübsche Bilder in der
Erinnerung hinterlassen hat …“
Wie bei Pfisters Mühle ging auch bei „Unruhige Gäste“ [158
Seiten] die Drucklegung nicht ohne Schwierigkeiten vor sich. Wanderte
dort das Manuskript erst zu verschiedenen Verlegern, so gab es hier
längere Auseinandersetzungen mit Redaktion und Verlag. Das Werk
löste in der Schriftleitung der „Gartenlaube“ durchaus nicht
reine Freude aus. Ein Brief, den der Verleger Alfred Kröner selbst
an Raabe richtet, schildert deren Reaktion1938.
Die Redaktion der Gartenlaube habe sich bei aller Bewunderung des
Werkes gegen die Annahme ausgesprochen, da es sich nicht für einen
Abdruck in Fortsetzungen eigne. Aber er – Kröner — möchte einen
letzten Versuch machen, das schöne, ergreifende Werk für die
„Gartenlaube“ zu retten. Trotz Raabes vorbeugender Ablehnung
jeder Änderung tritt er für einige Änderungen in weniger wichtigen
Punkten ein. Er bittet um des besseren Verständnisses bei allen
Lesern willen um Beseitigung der vielen Fremdwörter und der Zitate
in fremden Sprachen. Eine weitere Bitte knüpft an Worte Raabes im
letzten Brief an: Ich brauche wohl nicht hervorzuheben, daß die
Sache durchaus nicht etwa vom Standpunkt des frömmelnden Pietismus
aufgefaßt ist, sondern aus dem vollen Gegenteil heraus! Kröner
wünscht, daß das noch deutlicher ausgesprochen werde, damit es auch
der weniger „feinspürige Leser“ findet und nicht das
Mißverständnis entsteht, die „Gartenlaube“ werde jetzt fromm.
Über die Aufnahme der Unruhigen Gäste beim Publikum der
„Gartenlaube“ haben wir neben einzelnen Andeutungen in anderen
Briefen das zusammenfassende Urteil Kröners: „Die Gebildeten unter
unseren Lesern zollen dem Roman uneingeschränktes Lob, aber die
große Mehrzahl hat Sie gegen den Schluß hin nicht mehr verstanden
und klagt darüber.“
Die Aufnahme von „Im alten Eisen“ [177 Seiten] bei den Lesern
von „Vom Fels zum Meer“ scheint nicht durchweg zustimmend gewesen
zu sein. Wenigstens schreibt Kürschner 1887:
„Ich glaube fast, daß Ihr Roman für das große Publikum zu
fein gewesen ist, um so größere Freude hat er mir beim wiederholten
Lesen gemacht“. Westermanns Monatshefte 1887, Kölnische Zeitung
1887; Die Gegenwart 1888 – alle drei Besprechungen beurteilen das
Werk positiv. Bemerkenswert ist, daß sie über die Kategorien des
üblichen Beurteilungsklischees wie Humor, Gemüt, Idealismus u. ä.
hinaus übereinstimmend, z. T. mit fast denselben Worten feststellen,
wie stark „Im alten Eisen“ unmittelbar aus der Wirklichkeit
schöpft (West. Mon.: „seine Gestalten wurzeln in der wahren
Menschennatur“, Köln. Ztg.: „tief im menschlichen Leben
wurzelnd“, und daß Raabe aber über die einfache Abschilderung der
Wirklichkeit hinausführt.
In den „Grenzboten“ 1890 schrieb Moritz Necker:
„Ein Produkt ganz eigentümlicher Art ist die neueste Erzählung
Wilhelm Raabes: ,Der Lar' [166 Seiten]. Hier ist die geringe Handlung
mit Humor durchtränkt, durchgeistigt. Das Unbedeutende wird
symbolisch bedeutsam, im Alltäglichsten spiegelt sich der Charakter
der Zeit. Der Kontrast des in der Wirklichkeit häßlichen,
unangenehmen, abstoßenden, ärmlichen zu der Fülle dessen, was ihm
gemütlich untergelegt wird, was es geistig begleitet, ist voll
echten und wahrhaft dichterischen Humors. Auch hier wird viel mehr
geredet als gehandelt, aber diese Reden sind teils so pudelnärrisch
gescheit, teils so rührend drollig, teils so gallig übermütig, daß
sie uns stets unterhalten, und bei aller grüblerischen Sinnigkeit
kommt es oft zu einem herzlichen Gelächter. Die Geschichte ist so
recht aus den kleinen Miseren des modernen städtischen Lebens
herausgewählt, die gerade wert genug sind, daß sich ein tieferes
Gemüt ein klein wenig über sie ärgere, um sich doch nach einem
Augenblick der Verstimmung wieder in die reine Luft des Geistes zu
erheben. Die Erzählung beginnt mit der Ausquartierung und
Übersiedlung dreier Menschen … Das Eigenartigste an dieser ganzen
Oster-, Pfingsten-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte ist die
Darstellung. Ein reicher Geist offenbart sich auf jeder Seite, innig
empfunden sind alle Stimmungen, meisterhaft ist z. B. jener
Spaziergang im endlosen Landregen geschildert; die zahllosen
philosophischen Anspielungen sind voller Munterkeit, und doch ist ein
gewisses Maß gewahrt, die Subjektivität des Erzählers läßt der
Gestaltung der Menschen und Vorgänge Raum.“
Nach Erscheinen von „Das Odfeld“ [215 Seiten] schreibt
Freundin Marie Jensen am 22.12.1888:
„ …Für Dein Odfeld drücke ich Dir im Geist die Hand. Ich
habe es ungern verlassen, und erst nachdem ich es zweimal gelesen …
Mir ist das Odfeld als Ganzes noch lieber als das alte Eisen. Die
Ruhe darin thut so wohl. Die Ruhe des Autor's meine ich; denn an
seiner Hand läßt man sich durch Pulverdampf und jegliches Geschrei
vertrauensvoll und gerne hindurch führen. Weißt Du wohl, daß der
Buchius Vieles von Dir hat? Aber der Thedel auch! Letzterer sogar
sehr viel. Auch sieht es Dir köstlich ähnlich, so ein dickes Buch
an Einem Tage (diesmal freilich mit Vorabend) spielen zu lassen!“
Wilhelm Brandes in den Blätter f. lit. Unterhaltung 1888, erkennt
in der Erzählung den Tiefblick des Weisen und die Feder des
Humoristen, des echten, dem „das Größte zum Kleinsten und das
Kleinste zum Größten“ geworden ist, und führt als Beweis dafür
die Gestalt des Buchius an, um mit einigen Bemerkungen über Raabes
eigenwilligen Stil zu schließen. Hans Blum in der Allgemeine
Zeitung, München 1889, äußert sich anerkennend. Auf eine
allgemeine Charakteristik Raabes, die das geläufige Klischee bietet
(„Humor, … der noch durch Tränen lacht“), folgen eine
Inhaltsangabe der Erzählung, die „innig und herzergreifend“
heißt.
Die Aufnahme des „Heiligen Born“ [341 Seiten] 1861 war privat
und in der Öffentlichkeit durchaus freundlich. Glaser äußerte
„Freude und Entzücken“ und wünschte, Raabe möge „auf dieser
Höhe“ bleiben. Daß auch urteilsfähige Leser noch Jahrzehnte nach
dem Erscheinen beeindruckt waren, zeigt ein Brief Marie Jensens 1876:
„… Du hast mich ahnungslos mit dem „Heiligen Born“
getränkt und gelabt in dieser letzten Woche … Ich habe beim Lesen
des Buches viel gelacht und (lache nicht!) auch gegen Schluß hin
viel geweint. … Was Du in jüngerer Zeit geschrieben, das laß den
Jüngeren, denn: ‚anders lesen Knaben den Terenz‘ als – wir
Alten … Mir hat nun Dein heiliger Born und die Art, wie er fließt,
trotz den 31 Jahren gefallen, unsagbar gefallen.“
Kritiker Hans Blum äußert in den Blättern für die literarische
Unterhaltung 1891 geradezu begeistert:
„Raabes Talent und Eigenart offenbaren sich in diesem Jugendwerk
… aufs glänzendste … Es gibt unter allen Romanen Raabes kaum
einen, welcher mehr spannende Handlung, mehr ausgestaltete
lebensvolle Scenen von ergreifender Wirkung aufzuweisen hätte …
(Ferner) ist auch der gottbegnadete Humor Raabes schon in diesem
Werke überall entzückend ausgeprägt.“
Raabe erzielte 1860 mit der „Schwarze Galeere“ [45 Seiten]
einen buchhändlerischen Erfolg, wie sich dies nur mit dem der
„Chronik der Sperlingsgasse“ vergleichen läßt. Zahlreiche
Sonderdrucke wurden von der Erzählung veranstaltet. Vielfach wurden
diese für den Schulgebrauch hergerichtet, so der früheste 1863,
versehen mit einem Wörterbuch, in Rotterdam, der sorgfältigste 1913
in New York von Ch. A. Williams. Deutsche Schulausgaben, zum Teil mit
sorgfältigen Einführungen und Erläuterungen, folgten. Außerdem
sorgten Volksbildungsvereine, Buchgemeinschaften und Verlage für
weiteste Verbreitung der Erzählung. Allein die als Nr. 18 der
Wiesbadener Volksbücher erschienene Ausgabe erreichte im Jahr 1941
das 860. Tausend.
Noch im Monat der Veröffentlichung, Oktober 1856, erfuhr die
„Chronik der Sperlingsgasse“ [163 Seiten] ihre erste, rühmende
Besprechung. Sie stammte von Ludwig Rellstab, dem tonangebenden
Kritiker der Vossischen Zeitung, und lautete:
„… Wir verlassen das Theater und ziehen in die Sperlingsgasse,
eine Wohnung, die ich dem Leser von ganzem Herzen und von ganzer
Seele empfehlen will. ‚Chronik der Sperlingsgasse‘ nennt sich ein
gleichfalls in obiger Verlagsbuchhandlung (Stage) herausgegebenes
Büchlein von Jakob Corvinus. Ein reizendes Buch, warm wie die
Märzensonne, die uns über die Blumenbretter ins Fenster schaut,
heiter wie der Frühlingshimmel, doch zugleich sinnvoll ernst, mild
melancholisch wie ein Herbstsonnenuntergang. Der Dichter hat eine
angesehene Verwandtschaft, z. B. mit dem dänischen Andersen, ja in
einem entfernten Grade mit einem der höchsten Verwandten, den es in
der Literatenfamilie gibt, mit Jean Paul. Bei alledem hat er
vollständig sein eigenes Haus und Hof und lebt nicht von seinen
Verwandten. Zieht denn, ihr Leser, in die Sperlingsgasse! Mein
Wohnungsanzeiger kennt sie nicht, und doch glaube ich sie zu kennen
in unserer eigenen Vaterstadt. Ihr werdet die beste Nachbarschaft
finden, lustige, tolle, zarte, schöne, kernhafte, gesunde, sehr
Kranke. Ihr werdet lächeln, lachen, vielleicht auch eine Träne
vergießen! Immer aber innerlich erwärmt, oft erhoben sein. - Ob
Jakob Corvinus, der Autor, von Matthias stammt, weiß ich nicht; aber
er ist mir lieber. Ich wollte nur, sein Name stände im
Wohnungsanzeiger, daß ich ihn besuchen könnte, doch ich habe ihn so
vergeblich gesucht wie die Sperlingsgasse.“
Die „Deutsche Romanzeitung“ brachte 1864 folgende Besprechung:
„Mit einem bescheidenen Vorwort sendet Raabe sein vor zehn
Jahren erschienenes Erstlingswerk in neuer Auflage und eleganter
Ausstattung wieder in die Welt. Ein gar herziges, sinniges Buch, wie
ein solches eben nur von einem gemüthvollen Deutschen geschrieben
werden kann – deren wir aber doch nur leider wenige besitzen. Ein
Kreis harmloser Menschen, arme Künstler, Literaten, biedere
Handwerker etc., deren Schicksal, Freude und Leiden, Liebe, Trennung,
Wiedersehen, Leben und Sterben, wie wir es wohl alltäglich finden
können – uns der alte Junggesell Johannes Wachholder von einer so
menschlich schönen Seite schildert, daß wir bald unter den guten
Menschen uns heimisch fühlen, mit ihnen lachen und schäkern und
wohl auch mit ihnen eine Träne vergießen. Diese tief und wahr
gefühlten Schilderungen ernster und trauriger Momente, wechselnd mit
den Darstellungen eines sprudelnden kecken Humors und der naiven
Innigkeit, mit der er uns auch wunderliebliche Bildchen aus dem Leben
eines Kindes vorzuführen weiß und selbst des komisch-gravitätischen
Pudels ‚Rezensent‘ nimmer vergißt, müssen uns anheimeln und für
das Buch, wie für den Verfasser mit warmer Teilnahme erfüllen. Wer
könnte z. B. die Erzählung der alten Handwerkerfrau aus der
Franzosenzeit und von ihren beiden auf den Schlachtfeldern
gebliebenen Söhnen ohne tiefe Rührung lesen? Und wiederum die
köstliche Schilderung der Weihnachtswanderung und Feier Wachholders
und des Malers – möchte sie doch von allen alten Junggesellen
gelesen und nachgeahmt werden!“
Von der Kritik wurde der „Ein Frühling“ [250 Seiten]
unterschiedlich aufgenommen: In dem „Illustrirten Familienbuch zur
Unterhaltung und Belehrung häuslicher Kreise", hg. vom
Oesterreichischen Lloyd, 1858, schrieb Levin Schücking:
„Von dem Verfasser dieses Romans haben wir früher ein
eigenthümliches kleines Buch: ‚Die Chronik der Sperlingsgasse‘
als eine Erscheinung hervorheben können, welche ein bedeutendes
Talent ankündigte. Die vorliegende Erzählung oder Lebensbild
rechtfertigt die durch die Erstlingsarbeit erregten Erwartungen, und
wir machen mit Freude auf diese tief gemütliche, humoristische,
liebenswürdige Gabe aufmerksam. In der Art der Darstellung hat
Corvinus Ähnlichkeit mit der sinnigen, Idealität und Realismus mit
so großer poetischer Kraft verschmelzenden, Weise von Boz-Dickens;
es fehlt ihm jedoch dessen Virtuosität in der Charakteristik, seine
Gestalten sind sich einander ähnlicher, sind einfacher, als es gut
ist, und ihre Harmlosigkeit hat mitunter etwas Kindisches. Auf
Komposition und Anlage des Ganzen zu einem gerundeten Kunstgebilde
ist zu wenig Zeit verwendet und alles Gewicht auf die Art des
Vortrags gelegt. Überwindet der Verfasser diese Schwäche, so kann
es ihm nicht fehlen, unsern originellsten Erzählern zugerechnet zu
werden. Auf der andern Seite liegt ihm die Gefahr nahe, mit seiner
kurzgeschürzten, stoßweisen Diktion in Manier zu verfallen.“
In den „Blättern für literarische Unterhaltung“ besprach
1860 Hermann Marggraf unter drei humoristischen Dichtungen auch
Raabes „Frühling“.
„Der Humor durchdringt den ganzen Körper der Erzählung … wie
das Sonnenlicht die Luft, auch da wo sich diese zu Moderdünsten und
Sumpfnebeln verdichtet … Auch die ernstesten und tragischsten
Situationen und Katastrophen erhalten meist eine gewisse
humoristische Beleuchtung … ist wesentlich Genremaler, nur daß er
vorzugsweise solche intime Herzensgeschichten erzählt, die zu allen
Zeiten wiederkehren, die ewig alt und dabei doch immer neu sind wie
der Frühling, wie der Schmerz, wie die glückliche oder auch
unglückliche Liebe. Sein Humor ist wesentlich lyrisch-gemütlicher
Art, zuweilen an milde Schwermut anklingend, aber selten oder nie in
grellen Dissonanzen das Herz zerreißend oder verbitternd. Uns ist in
der Tat unter den neuern Novellisten keiner bekannt, der ein
weicheres, zärtlicheres Gemüt hätte, der so ganz und gar aus
bloßem Gemütsstoff bestände. Ja, man kann ihm zum Vorwurf machen,
daß er auf der Klaviatur seines empfindungsvollen Humors häufig zu
weiche Töne anschlage; er hat fast zu wenig Schärfe oder
Bitterkeit. … Der Stil, der in diesem Romane oft nur in stoßweise
herausgepreßten Exklamationen fortschreitet und alle Augenblicke
durch Ausrufe des Vfs. unterbrochen wird …, ist in seinen neuesten
Hervorbringungen weniger manieriert und weniger luxuriös, die
Handlung schreitet geregelter fort, die Charakteristik ist saftiger.
Der Roman ,Ein Frühling‘ hat zwar allerliebste Einzelheiten; das
sanfte, liebenswürdige Klärchen und ihre Freundin, die blinde
Eugenie, namentlich die erstere, gehören zu den reizendsten
Frauengebilden, die man sich denken kann; auch der Privatdozent
Justus Ostermeier und andere originelle Personen des Romans sind
gelungene Figuren; aber dies sind immer doch ansprechende
Einzelheiten, die aus dem sehr breit behandelten Roman hervortauchen
… Wir wissen nach den bisherigen Talentproben des Vfs. immer noch
nicht recht, ob er überhaupt zu größeren Kompositionen das Zeug
hat, während ihm einzelne Genrebilder in seinen Romanen und kleinere
Erzählungen und Märchen ausgezeichnet gelungen sind.“
In der Öffentlichkeit fand das Buch „Die Kinder von Finkenrode“
[215 Seiten] 1859 eine freundliche Aufnahme. Die erste Rezension in
der „Deutschen Reichs-Zeitung“:
„Das wirklich eminente Talent, welches Corvinus als Erzähler
besitzt, hat sich bereits mehrfach documentirt und findet auch in dem
vorliegenden Werke einen neuen Ausdruck. Wir möchten jedoch
wünschen, daß dieses Talent entsprechendere Stoffe zu verarbeiten
fände und dadurch zur vollen Entfaltung und Geltung käme, denn
solche einfache Vorgänge, wie sie hier geschildert werden, sind
demselben doch zu unbedeutend. Beherzige der Verfasser das berühmte
Wort: ,Wahrhaft groß sein heißt, nicht ohne einen großen
Gegenstand sich regen‘; greife er, wenn das Leben der Gegenwart ihm
nicht genügt, in die Vergangenheit der Geschichte, und wir sind
überzeugt, daß er das Werthvollste leisten, daß er dem deutschen
Roman eine ganz neue charakteristische Bahn eröffnen wird. Übrigens
wollen wir vorliegendem Buche seinen Werth nicht streitig machen. Es
ist reich an feinen psychologischen Zügen und tief-gemüthlichen
Schilderungen. — Ein junger Schriftsteller kommt nach
zwanzigjähriger Abwesenheit nach seiner Geburtsstadt Finkenrode
zurück und verlebt dort einige Monate mit den inzwischen erwachsenen
Gespielen seiner Kindheit. In dem engen Rahmen dieses kurzen
Aufenthaltes in der kleinen Stadt finden sich nun mit Meisterhand die
verschiedensten Charaktere und Ereignisse geschildert. Leider aber
trägt alles, was da vorgeht, ein etwas zu einfaches Gepräge; es
entwickelt sich wenig Handlung, da die vorkommenden Charaktere
eigentlich sämmtlich ohne Leidenschaft und ohne bedeutende
Schattenseiten hingestellt sind, und wenn der Leser am Anfange einer
Verwickelung angelangt ist, so zieht sich der Held zurück und die
Erzählung ist zu Ende. Immerhin bleibt dem Verfasser das Verdienst,
aus seinem Stoffe das Möglichste gemacht und somit den Beweis
geliefert zu haben, daß er Gestaltungskraft genug besitzt, um auch
ein unvorteilhaftes Material so zu behandeln, daß der belebende
Hauch des schöpferischen Geistes sich nicht daran verleugnet.“
Erzählungen, Novellen
Auf dunklem Grund [35 Seiten]
Aus dem Lebensbuch des Schulmeisterleins Michel Haas [40 S.]
Das letzte Recht [54 S.]
Der Junker von Denow [49 S.]
Der Marsch nach Hause [67 S.]
Der Student von Wittenberg [36 S.]
Der Weg zum Lachen [22 S.]
Des Reiches Krone [58 S.]
Deutscher Mondschein [22 S.]
Die Alte Universität [27 S.]
Die Gänse von Bützow [83 S.]
Die Hämelschen Kinder [38 S.]
Drei Federn [164 S.]
Ein Besuch [13 S.]
Ein Geheimnis [27 S.]
Eine Grabrede aus dem Jahre 1609 [25 S.]
Einer aus der Menge [17 S.]
Else von der Tanne [39 S.]
Gedelöcke [45 S.]
Holunderblüte [35 S.]
Im Siegeskranze [42 S.]
Keltische Knochen [40 S.]
Lorenz Scheibenhart [34 S.]
Sankt Thomas [55 S.]
Theklas Erbschaft [19 S.]
Weihnachtsgeister [25 S.]
Wer kann es wenden? [44 S.]
Die Sammlungen fanden Beachtung bei unterschiedlicher Beurteilung
der einzelnen Erzählungen. Neben „Des Reiches Krone“ und „Else
von der Tanne“ wurde „Im Siegeskranze“ eine der beliebtesten
Novellen Raabes und ist mit diesen und ohne sie in vielen
Sonderausgaben verbreitet.
Die Aufnahme von „Fabian und Sebastian“ [185 Seiten] war 1881
geteilt. Die ausführlichen Besprechungen schwanken zwischen
unverhüllter Ablehnung und höchst lobender Anerkennung. Negativ
urteilt Th. Zolling, 1882. Die Besprechung, deren flüchtige Machart
aus mehrfacher Verwechslung der Personen hervorgeht, tadelt
Komposition und die „kuriose“ Sprache, nennt das Werk „nie
genial, nie erhaben“, „klein“, „kleinlich“ und bescheinigt
ihm „muffiges, altfränkisches Provinzialparfüm“, erkennt
allerdings da und dort „Poesie“ und überall „tiefes Gemüt“
an. Die einseitige Geschmacksrichtung des Rezensenten ergibt sich aus
der Feststellung, daß Marie Erdeners Gang in die Freiheit „eine
ergreifende realistische Schilderung“ sei, „die in unserer
gesamten Erzählkunst ihresgleichen sucht“. Besonders positiv
äußert sich J. J. Honegger, Blätter für literarische Unterhaltung
1882. Er stellt mit Recht fest, daß das Schwergewicht in der inneren
Entwicklung ruht, rühmt den „reinen Humoristen“, die „Stimmung,
Färbung und seelische Zeichnung“ sowie das „Gemüt“, empfindet
„Weihnachtsstimmung“ und kommt so zu dem Werturteil „wahrhaft
vorzüglich“.
Raabe sah 1891 der Veröffentlichung von „Gutmanns Reisen“
[208 Seiten] mit einigem Unbehagen entgegen. Gleich die erste
Besprechung, die Raabe zu Gesicht bekam, war geeignet, ihn in seinem
Mißtrauen gegen das Buch zu bestärken, doch in die Enttäuschung
mischte sich bei ihm sogleich berechtigter Zorn über die hämische
und unsachliche Stellungnahme des Rezensenten. Im Gegensatz zur
Kreuzzeitung brachten die Blätter für litterarische Unterhaltung
eine durchaus freundliche Besprechung, verfaßt von Robert Lange:
„Wilhelm Raabe wird von denen, die ihn kennen, als ein Humorist
ersten Ranges, nach Gottfried Keller's Tode wohl als der erste
Humorist unserer Tage gepriesen, aber seine Begabung geht über die
Grenzen des humoristischen Romans hinaus … Nun hat er uns noch kurz
vor Weihnachten mit einem neuen Werke beschenkt: ,Gutmanns Reisen‘.
Es gehört zu den wenigen Erzählungen Raabe's, die uns ein
ausschließlich heiteres Gesicht zeigen, in denen die Nachtseiten des
Lebens, die ergreifenden rührenden Menschenschicksale, durch deren
Darstellung der Dichter uns so oft gepackt und erschüttert hat,
vollständig fehlen. Von der vanitas, vanitatum vanitas, von
schmerzlicher Resignation ist darin nicht die Rede. Die Geschichte
versetzt uns in die Einheitsbestrebungen der sechziger Jahre,
bekannte politische Persönlichkeiten, Bennigsen, Miquel u. a.,
treten darin auf. Mit Benutzung wirklicher Ereignisse fingirt der
Dichter einen großen Parteitag in Coburg im Jahre 1860, schildert
die Verhandlungen – für manche Leser und manche Leserin vielleicht
etwas zu breit – und symbolisirt die Verbrüderung und dauernde
Vereinigung des deutschen Nordens mit dem Süden durch die Verlobung
des Fräulein Clotilde Blume aus Wunsiedel mit Herrn Wilhelm Gutmann
aus Norddeutschland. Es ist eine alltägliche Liebesgeschichte, wenn
man sie nacherzählen will; in Raabe's meisterlicher Darstellung
wirkt sie wahrhaft herzerquickend. Schon die Reise von Gutmann Vater
und Sohn nach Coburg, das Zusammentreffen mit Clotilde in Immelborn
sind köstlich geschildert, den Höhepunkt aber erreicht die
Liebesgeschichte im 17. Kapitel.“
Die Erzählung „Fräulein (Prinzessin) Fisch“ [195 Seiten]
fand vielseitige Beachtung. Sehr herzlich äußerte sich Marie Jensen
in einem Brief. In der öffentlichen Kritik gingen die Meinungen sehr
auseinander. Freundliche Zustimmung fand Raabe in den „Grenzboten“
1883. Hier schrieb ein nichtgenannter Rezensent:
„Die Eigenart und das Verdienst Raabescher Erzählungskunst sind
in diesen Blättern eingehend und warm genug erörtert worden, um
voraussetzen zu können, daß alle unsre Leser mit einigen der
vortrefflichen und liebenswürdigen Schöpfungen dieses Dichters
vertraut sind. ‚Prinzessin Fisch‘ ist wieder eine Erzählung aus
der deutschen Kleinwelt, nicht ganz so prächtig und humoristisch wie
die Meisterstücke ‚Horacker‘, ‚Wunnigel‘ und das ‚Horn von
Wanza‘, aber doch stimmungsreich und launig, mit ein paar sehr
charakteristischen Gestalten und vielen anmutigen Einzelheiten. Der
Reiz des anscheinend alltäglichen, im innersten Kern gesunden und
menschenwürdigen Philistertums in einer deutschen Kleinstadt und der
Gegensatz des ganz und gar verlognen und hohlen Schwindels, welcher
sich anmaßt, das Philisterium modernisiren und verbessern zu wollen,
treten uns in der originellen Geschichte entgegen …“
Zwischen Ablehnung und Zustimmung schwankend nahm auch Hellmuth
Mielke in dem „Magazin für die Literatur des In- und Auslandes“
1883 zu dem Buch Stellung.
„… Komposition und Darstellung sind bei diesem Dichter so
individuell, daß sie sich um die Kunstformen der Epik nicht viel
kümmern. Daher die wirren und krausen Züge der Charakteristik, die
verschwommene, unklare Art der Erzählung, welche das Interesse des
Lesers nur zu häufig ermüden läßt. Raabe erzählt z. B. meistens
die Ereignisse nicht selbst, sondern er läßt seine Personen darüber
reflektiren, und wir müssen uns aus diesen Reflexionen ein Bild von
dem machen, was geschehen ist. Und zum Unglück haben seine Käuze
die Eigenschaft, besonders über Dinge sich aufzuhalten, die uns eben
gleichgiltig, das heißt aber – um gerecht zu sein – meist zu
hoch oder zu tief sind. Der Bruseberger und Mutter Schubach tun es
dabei nie unter drei Seiten, wenn sie ihre Ansichten
auseinandersetzen; schon das bedingt eine merkwürdige und
abspannende Form des Dialogs …“
Der Literaturkritiker Moritz Necker schrieb 1885 zu „Villa
Schönow“ [185 Seiten], ausgehend von Friedrich Theodor Vischers
Betrachtungen über Jean Pauls „Verfehlen“ der „Ausdehnung …
der gemütlichen Idylle auf das Ganze des Lebens“, sieht er in der
Überwindung des „Engbegrenzten“ das besondere Verdienst der
Erzählung; denn Raabe erkenne von seinem „stillen Poetenwinkel“
aus, in „weltfreudigem Humor“ die lebendige Gegenwartsrolle
Berlins als eines aufstrebenden „Zentrums des nationalen Lebens“,
der er „mit ironisierter Hegelei … die traurigen Kennzeichen der
Vergangenheit“ als Schlagschatten gegenüberstelle; Raabe ziehe in
der „Villa Schönow“ das berlinische Wesen in den Mittelpunkt der
Dichtung selbst. Das „Hauptinteresse“, das freilich durch die
Verwendung der Berliner Mundart etwas beeinträchtigt werde, richte
sich stärker auf die meisterhafte Darstellung „komischer und
sonstiger liebenswürdiger Charaktere“ als auf die ernsten Partien.
Er wünsche dem deutschen Volk mehr Dichter, die „mit dem tiefsten
Aufgehen in der Gegenwart … den Humor der Idylle erweitern auf das
Ganze des Lebens“.
Die erste Besprechung, die „Hastenbeck“ [195 Seiten]
galt, brachte das Leipziger Tageblatt in der Ausgabe vom 23. November
1898, unterzeichnet Maria Uhse. Sie hob besonders die
Eigenständigkeit Raabes gegenüber der herrschenden Mode und sein
dichterisches Gestaltungsvermögen hervor:
„Genau wie Wilhelm Jensen bekundet auch Raabe wieder und wieder
eine ebenso unermüdliche wie unerschöpfliche schriftstellerische
Leistungsfähigkeit, und auch das noch haben beide Autoren gemein,
daß sie in Bezug auf Stoffwahl wie Darstellungsweise sich nicht von
der Tagesmode beeinflussen lassen, sondern treu an ihrer
selbstgebildeten Form, an ihrer eigenen Anschauung, ihrem eigenen
Geschmack festhalten. Beide dürfen das auch, da ihr Gesichtsfeld,
wenn auch begrenzt, so doch ein sehr ergiebiges, ihre poetische
Erfindung reich an Mannigfaltigkeit und außerdem ihre sittliche
Auffassung eine so einfache und in sich abgeschlossene ist, daß sie
von den complicirten Forderungen der modernen Ethik kaum berührt
wird. Daß Beiden letztere nicht fremd ist, daß sie dem Weltlauf
überhaupt nicht blind und verständnißlos gegenüberstehen, das
beweist manche kritische Bemerkung; aber sie lassen sich nicht
willenlos mitreißen, sondern beharren auf ihrer Bahn, die sie noch
immer zu erfreulichem Ziele geführt hat. Welch meisterhaft
gelungenes Werk bietet denn auch Raabe mit seiner neuesten Erzählung
‚Hastenbeck‘ dem Publicum wieder dar; wie zeigt er sich in
demselben wieder als Humorist von wahrhaft classischer Vollendung,
und wie mächtig wieder weiß er den Leser bis in die Tiefen seiner
Empfindung zu packen.“
Es folgt eine kurze Wiedergabe des Inhalts, wobei, vor allem der
„bis zum Schlüsse hin wunderbar ... gestalteten Figur“ der
Wackerhahn hohe Anerkennung gezollt wird.
Das Dresdner Journal besprach das Werk in der Ausgabe vom 22.
November 1898 teils zustimmend, teils einschränkend. Das Werk
„gehört zur Reihe der leicht historisch angehauchten oder
gefärbten Raabeschen Erfindungen. Obschon es sich um das private
Schicksal alter und junger Menschenkinder handelt, die aus des
Dichters reicher Gestaltungskraft geboren sind, so werden doch diese
Schicksale mit Zuständen, Sorgen und Stimmungen verknüpft, die
infolge historischer Ereignisse über Hunderttausende hereinbrechen
und für die Raabe von altersher ein Auge, ein Ohr und ein warmes
Herz gehabt hat … Die einfachste wie die abenteuerlichste
Herzensgeschichte gewinnt in Raabes Auffassung und Wiedergabe den
vollen Reiz des echten Erlebnisses, und selbst Gestalten, die bei dem
Autor im gewissen Sinne typisch geworden sind, wie die alte Försterin
und nachmalige Marketenderin Frau Wackerhahn oder der nach der
Schlacht von Hastenbeck todkrank im Boffzener Pfarrhaus einquartierte
Schweizerhauptmann im französischen Dienst Balthasar Uttenberger,
runden sich doch immer wieder so individuell aus, daß wir die Welt
mit ihren Augen schauen und in ihr wunderliches und doch menschlich
warmes Seelenleben hineingezogen werden ... Das alles heimelt uns
aufs neue an, wie eine ganze Reihe früherer Erfindungen des
Dichters. Leider hat eine alte leidige Gewohnheit Raabes, sein
Dreinsprechen in den Gang der Erzählung, zugenommen. Freilich hat
dies Dreinsprechen und Unterbrechen von alters her für das Recht des
Humoristen gegolten, und nicht minder wahr ist es, daß gewisse
Rückblicke und weit über die dargestellte Zeit hinausgreifende gute
Bemerkungen nur auf diesem Wege möglich sind. Aber es schadet der
einheitlichen Wirkung doch, und die Stimmung, die aus den Dingen
selbst und den natürlichen Gegensätzen hervorgeht, ist immer besser
und nachhaltiger als die aus litterarischen Zitaten und
Vergleichungen erwachsende …“.
Raabe hielt den „Stopfkuchen“ [204 Seiten] für sein
bestes Werk. Die öffentliche Kritik bereitete dem „Stopfkuchen“
zumeist eine wohlwollende, in einzelnen Fällen auch eine geradezu
begeisterte Aufnahme. Die erste Besprechung, die Raabe zu Gesicht
kam, stand in den „Blättern für literarische Unterhaltung“
1891; sie war von Hans Blum verfaßt und lautete:
„Noch ein neuer Raabe für den Weihnachtstisch! Eine freudige
Botschaft für die große Gemeinde, welche in diesem Dichter den
phantasievollsten und gemütsreichsten lebenden deutschen Humoristen
verehrt. Und die schönen Erwartungen, welche die Altvertrauten dem
Liebling entgegenbringen, werden nicht enttäuscht. Weit eher
diejenigen, welche dem schalkhaften Beisatze: ,eine See- und
Mordgeschichte‘, trauen möchten und in dem Glauben nach dem Buche
greifen, Raabe sei nun in seinen altern Tagen auch unter die
Sensationsschriftsteller oder unter die Realisten gegangen. Diese
einfache und ergreifende Geschichte ist erzählt mit tiefstem Gemüt,
mit vollendeter Kunst und Feinheit. Man muß lange suchen, um ein
ebenbürtiges Seitenstück in der deutschen Literatur zu finden.
,Romeo und Julia auf dem Lande‘ von Gottfried Keller zeigt manche
verwandte Züge. Nur beherrscht Raabes köstlicher Humor die Tonfarbe
der ganzen Darstellung …“.
Die Reihe der positiven Beurteilungen setzte sich fort in einer
klugen Besprechung durch Moritz Necker in den „Grenzboten“.
Necker begann seine Ausführungen mit den Worten:
„Als einer der letzten Romantiker ragt Wilhelm Raabe, von den
Erzählern seines Alters und seiner Fruchtbarkeit vielleicht der
einzige, der sich auf der Höhe seiner Kraft erhalten hat, noch immer
achtunggebietend in unser Zeitalter des Wirklichkeitskultes herein.
Seine geistige Kraft scheint unverwüstlich zu sein, seine innere
Fortbildung scheint gar nicht abschließen zu wollen, mit jedem neuen
Buche, das er in die Welt schickt, ist er immer derselbe alte Wilhelm
Raabe und doch auch wieder neu, fesselnd, man sieht, daß er sich
nicht damit begnügt, auf seinen Lorbeeren zu ruhen.“
Für beginnende Leser von Raabes Werken eignet sich der
„Stopfkuchen“ jedoch nicht - Prof. Dr. G. Biegel empfiehlt „Abu
Telfan“.
Die Veröffentlichung von Raabes legendärem Nachlaßwerk
„Alterhausen“ [111 Seiten] begegnete größtem Interesse. H.M.
Schultz hat als Zeitgenosse über die Aufnahme berichtet, die es von
Seiten der Kritik gefunden hat 1911:
„Ich weiß von keinem – noch dazu unvollendeten –
Nachlaßwerke eines Dichters, das eine so einhellige günstige
Aufnahme gefunden hätte, wie dieses. So stark ist der Zauber, der
von diesem Buche ausgeht, daß ihm kein Kritiker sich hat entziehen
können, und daß nur bei zweien die Anerkennung nicht unbedingt ist.
Daß Altershausen für die Freunde Raabes ein köstlicher Schatz ist,
erscheint allen außer Zweifel; wie sich aber die übrige Lesewelt
dazu stellen wird, darüber sind die Meinungen geteilt.“
Düsel meint, der Weg durch die Pforte von Altershausen gehe nur
durch Raabes andere Bücher, auch L.Lorenz findet, wer noch nichts
von Raabe gelesen habe, werde sich überdies Buch wundern und sich
nicht leicht an die Art der Erzählung gewöhnen können, und Carl
Busse rät nur den Raabefreunden zu dem Werke, da andere wohl
verständnislos oder gar unwirsch den Kopf schütteln möchten. Im
Gegensatz dazu sagt Robert Lange: „Die dem Dichter noch ferne
stehen und nur wenig von ihm kennen, sollen nachdrücklich auf dieses
Buch hingewiesen werden.“ Alfred Richard Meyer hebt hervor, die
Charaktere seien gar nicht absonderlich, vielmehr einfach und bei
aller Tiefe alltäglich menschlich, und darum sei „dieses Buch wie
kein anderes geeignet, auch für einen ganz großen Leserkreis die
sonst so struppig zugewachsene Pforte des Poeten aufzutun.“
Für beginnende Leser von Raabes Werk empfiehlt sich die von Rolf
Tiemann kongenial illustrierte Ausgabe aus dem Jahre 2010.
Herausgegeben von den Städten Eschershausen / Stadtoldendorf.