Sonntag, 11. April 2021

Gegen Drangsal und Philistertum 1872

Innerhalb einer grotesken Liebesgeschichte,

in der Raabe einen Teil seiner achtjährigen Erfahrungen im Schwabenland verarbeitet, teilt er wieder einmal kräftig gegen das Duckmäusertum und den seit Jahrzehnten in Blüte stehenden Obrigkeitsstaat aus. 

... Sie [Miß Christabel Eddish] blätterte sich mit ganzer Seele hinein, und das war kein Wunder! Wer würde ein von einem Gespenst zwischen Tür und Angel auf der Flucht verlorenes Reisehandbuch mit geisterhaften Randglossen aus der Nachtseite der Natur heraus nicht mit zitternder, atemloser, atemanhaltender Spannung durchblättern? 

Leider wahrscheinlich sehr viele unserer braven Landsgenossen! Drei Viertel der deutschen Nation würden unbedingt ihren Fund getreulich der Polizei überliefern und es ruhig abwarten, wie diese darüber verfügen werde. Gewissermaßen können wir diese drei Viertel unseres Volkes auch nur darum loben; denn nicht alles, was ein Geist verliert, paßt in das intellektuelle Verständnis des Finders und ist noch weniger geeignet, im allgemeinen Bewußtsein sich zu verbreiten. Das wäre freilich etwas Schönes — und ein ärgerlich Ding für Staat und Kirche, wenn ein jeglicher das, was die Geister auf ihren Wegen bei Tag und Nacht verlieren oder gar von sich werfen und um sich umherstreuen, sich aneignen und ohne Bewilligung höhern Ortes ruhig behalten dürfte! Malen wir uns dieses ja nicht weiter aus, sondern halten wir uns ruhig an die althergebrachte und durch die Jahrtausende erprobte Weisheit unserer Konsistorien, medizinischen und juristischen Oberkollegien, Hoftheaterintendanturen, akademischen Senate und so weiter! 

Nüchterne Erkenntnis von Martin Luther.
Zitat: Martin Luther

… und schleuderte das Buch mit unbeschreiblicher Energie hinaus aus dem Wagenfenster, weit hinaus auf den Karlsplatz und einem den Platz gerade überschreitenden, an nichts denkenden deutschen Poeten und Ritter des Maximiliansordens gerade vor den Magen. Der Chevalier, fast zu Boden gestreckt durch den vollkräftigen Wurf, drehte sich dreimal, den Dichter in sich natürlich mit sich herumreißend, um seine eigene Achse, griff mit beiden Händen nach dem Leibe und starrte — starrte — starrte, bis es zu spät war, die Droschke einzuholen und um Aufklärung zu bitten. 

… Noch zehn Minuten nachher stand er denn auch, und zwar nicht in der Stellung, in welcher er dermaleinst in Erz gegossen zu werden wünschte, und blickte das rote Buch zu seinen Füßen scheu zögernd an. Zuletzt wagte er es, das Ding aufzuheben; aber er ging sehr vorsichtig dabei zu Werke — fast ebenso vorsichtig wie vorhin Miß Christabel Eddish am Sockel der Bavaria. Ob er es der Polizei ablieferte oder es mit sich nach Hause nahm, können wir nicht sagen, sind jedoch nach unsern vorhin eingeschobenen Bemerkungen über gefundene Sachen innigst überzeugt, daß er es ablieferte und es erst dann poetisch verwertete, wenn es ihm durch sämtliche im Laufe der Zeit historisch-politisch gewordenen staatlichen und kirchlichen Behörden dintenflüssig gemacht worden war. 

Aus: Christoph Pechlin. 

Das achte Kapitel.

Ende.