Auf einer der höchsten Höhen Tivolis saßen, an einige Felstrümmer gelehnt, zwei Fremde, ein Mann und eine schwarzgekleidete, tiefverschleierte Dame. Zur Linken über dem Wassersturz erhob sich jenes köstliche Kleinod der Zeit des Augustus, der Tempel der Vesta; zur Rechten flog der Blick durch die Felsschlucht über die dufterfüllte Campagna hin bis zum fernsten Horizont, wo die Kuppel der größten Kirche der Christenheit, des Doms von Sankt Peter, in der Nachmittagssonne funkelte. - Hier war es, wo die Sängerin Alida dem Doktor Hagen die Leiden ihres kleinen Lebens erzählte. - Mit Bedacht hatte sie der Doktor auf diese wundervolle Stelle geführt: Einem solchen Blick gegenüber kann sich wohl das gepreßteste Herz erweitern, die verschlossenste Brust sich öffnen!
„Sehen Sie, Alida, wie schön, wie ruhig das in seiner Wildheit ist!“, sagte der Arzt. „O“, seufzte die Angeredete, „nennen Sie mich nicht Alida; nennen Sie mich Lida, nennen Sie mich Lida Mayer, wie ich einst hieß – einst, als ich noch nicht so - unglücklich war!“ Der Doktor entfernte sich einige Schritte, um eine aus einer Felsspalte wuchernde Distel vorsichtig abzubrechen. Dann kam er damit zurück und reichte, nachdem er mit dem Messer die Stacheln abgestreift hatte, die schöne, blutrote Blume seiner Begleiterin. „Das ist eine prächtige Blüte“, sagte er, die Künstlerin ernst ansehend. „Nicht wahr, Lida Mayer? - Da wuchern im Leben solche verräterischen Gewächse, die uns anlocken durch Farbenpracht und Duft. Alida, wir törichten Menschenkinder greifen dann darnach und verwunden uns an den tückischen Stacheln. Können Sie mir nicht sagen, Lida, was für eine Blume es war, an der Sie sich geritzt haben? . . . Lassen sich die Stacheln nicht wieder aus der Seele entfernen?“
Die Gefragte senkte den Kopf. „Ich bin allein in der Welt“, flüsterte sie leise. „Sie haben mich, die Unbekannte, gerettet aus der Verzweiflung der letzten, schrecklichen Tage, Sie wollen es dulden, daß ich mich wie eine Schiffbrüchige an Sie anklammere . . . ich will Ihnen alles erzählen - was ich von mir weiß. Haben Sie Geduld mit mir: ich bin wie eine Traumwandlerin, die plötzlich angerufen worden ist, . . . ich . . . Doktor . . .“ Zusammenschauernd hauchte die Künstlerin noch einige Worte, die dem Arzt, so aufmerksam er auch lauschte, doch verloren gingen.
Es geht weiter in "Ein Frühling" - Sechstes Kapitel.
- ENDE -