Donnerstag, 18. Juni 2020

Münzen – das Runde musste ins Eckige - Megatrend Digital.


Seit Erfindung des Münzgeldes vor etwa 2.600 Jahren

wurden zunächst im Mittelmeerraum, letztlich dann über den gesamten Globus hinweg, Milliarden und Abermilliarden Münzen hergestellt — in aller Regel in Form kleiner runder Metallscheiben mit beidseitig eingearbeiteten Text— und Bildelementen. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive sind Münzen als historische Originalzeugnisse also gerade deshalb so faszinierend, weil ihre Materialeigenschaften, ihre Präge- und Fundorte sowie ihre Bild— und Textgestaltung so überaus viel darüber verraten, wie Menschen miteinander interagiert, wie sich politische Mächte legitimiert und wie sich ganze Wirtschaftssysteme entwickelt haben: Münzen bieten uns Einblicke in frühere Kulturen, die wir aus literarischen Zeugnissen niemals gewinnen könnten. 1754 wurde mit dem „Kunst und Naturaliencabinett“ (HAUM) eines der ersten öffentlich zugänglichen Museen überhaupt eröffnet. 

Fünf Pfennige von 1862. BS.
Münzgeld zu Raabes Zeit. ML.
Der Sammlungsbestand wird hier typischerweise der Ordnungslogik von eckigen Kabinettschränken unterworfen, die jeder einzelnen Münze einen festen Platz zuweist und sie damit überhaupt erst auffindbar und somit der Forschung zugänglich macht. Die Lagerung im Münzschrank war über die letzten Jahrhunderte hinweg sozusagen der Goldstandard numismatischer Systematisierungstätigkeit. Über die letzten Jahrzehnte hinweg sind publizierte Sammlungskataloge der griechischen, römischen und mittelalterlichen Münzen sowie der Medaillen hinzugekommen. Seit 2018 nun wird die Sammlung sukzessive digitalisiert www.virtuelles-muenzkabinett.de und gewinnt damit eine bedeutende neue Dimension hinzu.

Neue Bezüge dank Schnittstellen

Die Digitalisierung einer numismatischen Sammlung bietet die Möglichkeit, die starre Ordnungslogik aufzulösen und den Sammlungsbestand in einer ganz neuen Qualität nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch für die Forschung aufzubereiten: Die Daten, die sich zu den einzelnen Sammlungsobjekten erheben lassen, werden fluide und lassen sich über virtuelle Schnittstellen in Sekundenbruchteilen mit Daten aus anderen Sammlungen weltweit in Beziehung setzen. So werden erstmals in großem Stil statistische Abfragen etwa über den Münzumlauf, über Hortbildungsmuster oder über den Einsatz bestimmter Bildelemente möglich. Gerade über die hochwertigen Bilddateien, die mit jedem Digitalisat verknüpft sind, lassen sich die Objekte jetzt auch mit Verfahren der Künstlichen Intelligenz untersuchen, und perspektivisch werden sich in absehbarer Zeit in großer Zahl 3D-Modelle von Münzen einbinden lassen. Galt die Anforderung „das Runde muss ins Eckige“ im Grunde schon für die Münzkabinette alten Typs, so ist Sammlungstätigkeit heute ohne das Instrumentarium des Digitalen kaum mehr denkbar.
Althistoriker Prof. Dr. Johannes Wienand.
Alte Geschichte, Technische Universität Braunschweig.

Neuer Impuls fürs Sammeln

Die alte Welt mit Katalogen, Fachzeitschriften, Antiquariaten und Auktionen hat ausgedient. Jeder Sammler kann mittlerweile im Internet weltweit selbst auf die Jagd gehen. Es ist so leicht wie noch nie, an Informationen zu kommen, zu größerer Transparenz, etwa bei der Ermittlung aktueller Marktpreise. Auf den ersten Blick gefällt der Trend den traditionellen Händlern natürlich nicht. Sie müssen sich neu erfinden. Wer das nicht schafft, wird die Digitalisierung nicht überleben. Denn tatsächlich wird die Digitalisierung dem Sammeln allgemein einen neuen Impuls geben, schließlich geht es um den Ausdruck von
1867 Herzog Wilhelm zu Braunschweig und Lüneburg.
Raabes Zeit: Herzog Wilhelm, BS.
1 Thaler von 1867. ML
Individualität.
Die Unternehmensgruppe Richard Borek steht seit 1893 im Dienst des Sammlers. Bereits jetzt hat sich das Nutzungsverhalten der Kunden in der digitalen Welt erheblich verändert. Auf die Homepage  www.borek.de greifen die Kunden bereits mehr als 20 Millionen Mal pro Jahr zu. Mittlerweile werden jährlich mehr als 500.000 Bestellungen über E-Commerce abgewickelt. Das ist schon mehr als die Hälfte — Tendenz steigend — und das bei einer doch eher konservativen und älteren Kundschaft. Der Weg des Unternehmens wird weg vom klassischen Handelshaus hin zu einem digitalen Dienstleister führen. Die Möglichkeiten sind nicht absehbar. Dank der Blockchain-Technologie wird es zum Beispiel bald möglich sein, die Echtheit hochwertiger und mobiler Sachwerte auf Anhieb bestimmen zu können. Dazu wird ein hauchdünner, versiegelter Code an den betreffenden Objekten angebracht, der weltweit überprüft werden kann. In Echtzeit wird es für den Sammler möglich sein, zu ermitteln, ob der geforderte Preis angemessen ist oder nicht. Und umgekehrt wird es für Dienstleister möglich sein, Kunden ein gezieltes Angebot für ihre Sammlung zu übermitteln, sofern sie ihre digitale Sammlung zur Verfügung gestellt haben.
Angesichts der schier unendlichen Möglichkeiten treibt die Unternehmen natürlich die Frage um, was Menschen in 10, 20 oder 50 Jahren sammeln und wie sie es tun werden. Denn Jäger und Sammler werden wir auch in der nächsten Generationen bleiben, nur eben in anderer Form.

Richard Borek, der Jüngere.
Briefmarkenfachhandlung Richard Borek GmbH & Co. KG,
MDM Münzhandelsgesellschaft mbH & Co. KG Deutsche Münze,
Archiv Verlag.

Kurzausriss aus: Vier Viertel Kult, SBK.
Herbst 2019.

Ende.

Donnerstag, 4. Juni 2020

Hand und Hirn


Zählen Sie zu den Menschen, die einen Füller zwischen drei Fingerspitzen halten und einen lesbaren und ästhetisch ansprechenden Text schreiben können?

Glückwunsch, Sie beherrschen eine Kulturtechnik, die vermutlich bald so elitär sein wird wie das Reiten im Damensattel. Die Industrialisierung hat mit Eisenbahnen und Automobilen das Reisen auf Pferderücken zu antiquarischen Kuriositäten gemacht; die Digitalisierung stellt mit ihren Smartphones, Tablets und Sprachassistenten dasselbe mit der Handschrift an. Längst führt sie Rückzugsgefechte auf Notizzetteln‚ in Kondolenzbriefen — und in der Schule. Dort trifft es die verbundene Schreibschrift besonders hart. Viele Kinder hierzulande beherrschen nur noch die an Druckbuchstaben orientierte Grundschrift. Wozu Schnörkel, wenn alle tippen oder Siri diktieren? Die Stiftung Handschrift, die sich der Rettung der Schreibschrift verschrieben hat, stellte kürzlich alarmierende Zahlen vor: 51 Prozent der Jungen und 31 Prozent der Mädchen in weiterführenden Schulen haben Probleme mit der Handschrift. In der Sekundarstufe I kann nur die Hälfte flüssig Schreibschrift schreiben, die andere fällt in die gedruckte Handschrift zurück. Zwei Drittel der Schüler bekommen nach zehn bis 15 Minuten einen Schreibkrampf. 
Kurrentschrift von Wilhelm Busch
"Schein und Sein"
Warum das ein Jammer ist? Weil Schreibschrift kein überflüssiger Dekor ist, sondern eine ganzheitliche Übung, die beim Denken hilft.

Wer Buchstaben erschafft, statt sie auf einer Tastatur auszuwählen, wer sie motorisch zu Worten verbindet, aktiviert mehr Hirnregionen und vergisst das Notierte weniger leicht. Die Langsamkeit des Vorgangs unterstützt die Gedankenfindung und fordert Konzentration.
Übrigens nicht nur bei Kindern.

Ursula Scheer.
Ausriss aus F.A.Woche
2019 Mai.
Ende.