Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichtshof, hat die Zusammenhänge unseres Redens
– hier im Rahmen des Strafrechts – luzide aufgegriffen:
Sprache besteht
aus Symbolen. Die Zusammenhänge der Sprache sind keine bloße
quantitative Anhäufung von Wörterzeichen. Wenn es so einfach wäre,
könnten Computer schon heute besser sprechen (also denken) als
Menschen. Das eigentlich Interessante und Faszinierende sind die
qualitativen Aspekte der Sprache.
Bildlich ausgedrückt:
Sprache ist keine Fläche, sondern eine vieldimensionale Form, die
sehr direkt mit allen Funktionen des Gehirns verbunden ist und sie
symbolisch widerspiegelt. Sie ist mit kognitiven, also
„schlicht“ erkennenden Funktionen verbunden, zugleich mit
Gefühlen, Wertungen, Vergleichen, Erinnerungen. Und sie ist ja vor
allem immer grundsätzlich interaktiv, das heißt vereinfacht: Wo
Sprache, in welcher Form auch
immer, als „Output“ in die Welt geht, kommt
sie auch als „Input“ wieder herein und trägt dabei alle fremden
Symbolgehalte mit sich.
Daraus ergeben sich
Folgerungen, die für unser Thema Strafrecht wichtig sind:
Zum Ersten,
dass Sprache in hohem Maß mit Intelligenz zusammenhängt, also mit
Abstraktionsvermögen einerseits, Erinnerungs-, Gefühls- und
Assoziationsvermögen andererseits. Sie ist insoweit eng mit
Empathie verknüpft.
Daraus folgt
zum Zweiten, dass Sprache stets ein hohes Maß an Individualität
hat und behält. Um als das überragend wichtige System der
Verständigung und Zusammenarbeit zu funktionieren, das sie in der
menschlichen Natur ist, muss sie ununterbrochen im kommunikativen
Austausch „geübt“, angepasst, verglichen werden.
„Was
meinst du damit?“, ist eine scheinbar banale, tausendfach
gestellte, in Wahrheit existenziell wichtige Frage. Sie stellt sich
permanent, auch wenn sie nicht ausdrücklich formuliert wird. Das
fremde „Meinen“ und Bedeuten, der fremde Sinn, sind für unsere
Orientierung in der Welt von höchster Wichtigkeit. Wem eine
gemeinsame Sprache abhandenkommt, wer den Sinn der Wörter nicht
mehr versteht oder die der Mehrheit gemeinsame Logik der
Sprachbedeutungen verlässt, den empfinden wir als „verrückt“‚
außenstehend, furchterregend. Vor „Wahnsinnigen“, aus der
gemeinsamen Kommunikation herausgetretenen Menschen hat jeder Angst,
denn man kann an ihren Zeichen nicht zuverlässig erkennen, was sie
denken, planen, beabsichtigen. Beeindruckende Beispiele hierfür
bieten etwa Texte von Schizophrenen.
Zum Dritten
ergibt sich, dass der Inhalt der Sprache sich nicht allein deshalb
ständig verändert, weil die Sachverhalte, die sie beschreiben
soll, anders werden, sondern auch weil die Begriffe selbst „fließend“
sind. Sie werden in einem steten Prozess ausgehandelt, verschieben
sich, verlieren alte oder gewinnen neue Bedeutungen. Das kann sich‚
bezogen auf individuelles Erleben, sehr langsam oder sehr schnell
vollziehen. Das gilt selbst für scheinbar ganz feststehende,
eindeutige Begriffe.
Beispiel:
1990,
bei der deutschen Wiedervereinigung, war in den westlichen
Bundesländern das Wort »Mutti« als Bezeichnung für eine Mutter
zwar noch geläufig; es war aber im Lauf der Siebziger— und
Achtzigerjahre von einer allgemein gebräuchlichen Bezeichnung zu
einem Begriff geworden, der infolge von sozialen Konnotationen als
unmodern, spießig und rückständig galt — quasi als Inbegriff
eines kleinbürgerlich-engen Familienbildes der unmodernen
Vergangenheit. In den neuen Bundesländern hatte das Wort eine solche
Bedeutung aber nicht; es war (und ist bis heute) dort allgemein
geläufig. Das Wort bezeichnete scheinbar dasselbe, transportierte
aber — mit erheblichen Folgen für die kommunikative Wirkung —
eine völlig unterschiedliche assoziative Botschaft. Die sprachliche
Überwältigung des „unmodernen“ Ostens durch den „modernen“
Westen traf daher, weit über abstrahierende soziale Sachverhalte
(„Genosse“, „Kollege“‚ „Investor“‚ „Wohnbereich“,
„Kollektiv“) hinaus tief in die Bedingungen von subjektiver
Identität – wie auch immer „rückständig“. Es ist ein
Phänomen der Moderne, dass die jeweiligen Sieger der Sinndefinition
ein tief und meist sentimental empfundenes Mitleid mit Vertretern
vernichteter Kulturen der fernen Vergangenheit durchaus als moralisch
und emotional angenehm schätzen, aber Verachtung für Symbole
derjenigen Kultur empfinden, die sie selbst soeben vernichten.
Das Zusammentreffen
ost- und westdeutscher Sprache offenbarte — trotz der nur 40 Jahre
dauernden Trennung und des immerhin (wenn auch nur einseitig)
vorhandenen Austausches mittels Fernsehen — eine Vielzahl solcher
Verschiebungen, die teilweise bis heute andauern. Dasselbe geschieht,
im Alltag meist unmerklich, auch innerhalb eines Sprachraums:
Was man heute unter Begriffen wie „Sport“, „Kultur“,
„Arbeit“, „Familie“ versteht, ist keineswegs dasselbe wie vor
50 Jahren. Beispielhaft: Was heute als (kriminelle) „Gewalt gegen
Kinder“ beschrieben wird, ging 1960 problemlos als „konsequente
Erziehung“ durch.
Die Texte eines
Gesetzes „verändern“ sich in ihren Bedeutungen und
Sinnzusammenhängen also selbst dann, wenn sie im Wortlaut
unverändert bleiben. Je älter Gesetzestexte sind, desto mehr
Bedeutungsunschärfen können sich ansammeln. Für das Strafgesetz
(wie für jedes andere Gesetz) hat all das erhebliche Folgen: So muss
der Gesetzgeber versuchen, bei der Formulierung von Vorschriften so
genau zu sein, dass möglichst wenige Zweifel am Inhalt und an der
Bedeutung der verwendeten Begriffe bleiben.
…
Thomas Fischer
Textauszug aus "Über das Strafen"
Droemer Verlag
Ende