Donnerstag, 7. Mai 2020

Sprache, Begriffe, Grenzen – Worte und Symbole für Wahrheit


Thomas Fischer, Richter am Bundesgerichtshof, hat die Zusammenhänge unseres Redens – hier im Rahmen des Strafrechts – luzide aufgegriffen:

Sprache besteht aus Symbolen. Die Zusammenhänge der Sprache sind keine bloße quantitative Anhäufung von Wörterzeichen. Wenn es so einfach wäre, könnten Computer schon heute besser sprechen (also denken) als Menschen. Das eigentlich Interessante und Faszinierende sind die qualitativen Aspekte der Sprache.
Bildlich ausgedrückt: Sprache ist keine Fläche, sondern eine vieldimensionale Form, die sehr direkt mit allen Funktionen des Gehirns verbunden ist und sie symbolisch widerspiegelt. Sie ist mit kognitiven, also „schlicht“ erkennenden Funktionen verbunden, zugleich mit Gefühlen, Wertungen, Vergleichen, Erinnerungen. Und sie ist ja vor allem immer grundsätzlich interaktiv, das heißt vereinfacht: Wo Sprache, in welcher Form auch immer, als „Output“ in die Welt geht, kommt sie auch als „Input“ wieder herein und trägt dabei alle fremden Symbolgehalte mit sich.

Daraus ergeben sich Folgerungen, die für unser Thema Strafrecht wichtig sind:
  • Zum Ersten, dass Sprache in hohem Maß mit Intelligenz zusammenhängt, also mit Abstraktionsvermögen einerseits, Erinnerungs-, Gefühls- und Assoziationsvermögen andererseits. Sie ist insoweit eng mit Empathie verknüpft.
  • Daraus folgt zum Zweiten, dass Sprache stets ein hohes Maß an Individualität hat und behält. Um als das überragend wichtige System der Verständigung und Zusammenarbeit zu funktionieren, das sie in der menschlichen Natur ist, muss sie ununterbrochen im kommunikativen Austausch „geübt“, angepasst, verglichen werden.
    „Was meinst du damit?“, ist eine scheinbar banale, tausendfach gestellte, in Wahrheit existenziell wichtige Frage. Sie stellt sich permanent, auch wenn sie nicht ausdrücklich formuliert wird. Das fremde „Meinen“ und Bedeuten, der fremde Sinn, sind für unsere Orientierung in der Welt von höchster Wichtigkeit. Wem eine gemeinsame Sprache abhandenkommt, wer den Sinn der Wörter nicht mehr versteht oder die der Mehrheit gemeinsame Logik der Sprachbedeutungen verlässt, den empfinden wir als „verrückt“‚ außenstehend, furchterregend. Vor „Wahnsinnigen“, aus der gemeinsamen Kommunikation herausgetretenen Menschen hat jeder Angst, denn man kann an ihren Zeichen nicht zuverlässig erkennen, was sie denken, planen, beabsichtigen. Beeindruckende Beispiele hierfür bieten etwa Texte von Schizophrenen.
  • Zum Dritten ergibt sich, dass der Inhalt der Sprache sich nicht allein deshalb ständig verändert, weil die Sachverhalte, die sie beschreiben soll, anders werden, sondern auch weil die Begriffe selbst „fließend“ sind. Sie werden in einem steten Prozess ausgehandelt, verschieben sich, verlieren alte oder gewinnen neue Bedeutungen. Das kann sich‚ bezogen auf individuelles Erleben, sehr langsam oder sehr schnell vollziehen. Das gilt selbst für scheinbar ganz feststehende, eindeutige Begriffe.
Beispiel:
1990, bei der deutschen Wiedervereinigung, war in den westlichen Bundesländern das Wort »Mutti« als Bezeichnung für eine Mutter zwar noch geläufig; es war aber im Lauf der Siebziger— und Achtzigerjahre von einer allgemein gebräuchlichen Bezeichnung zu einem Begriff geworden, der infolge von sozialen Konnotationen als unmodern, spießig und rückständig galt — quasi als Inbegriff eines kleinbürgerlich-engen Familienbildes der unmodernen Vergangenheit. In den neuen Bundesländern hatte das Wort eine solche Bedeutung aber nicht; es war (und ist bis heute) dort allgemein geläufig. Das Wort bezeichnete scheinbar dasselbe, transportierte aber — mit erheblichen Folgen für die kommunikative Wirkung — eine völlig unterschiedliche assoziative Botschaft. Die sprachliche Überwältigung des „unmodernen“ Ostens durch den „modernen“ Westen traf daher, weit über abstrahierende soziale Sachverhalte („Genosse“, „Kollege“‚ „Investor“‚ „Wohnbereich“, „Kollektiv“) hinaus tief in die Bedingungen von subjektiver Identität – wie auch immer „rückständig“. Es ist ein Phänomen der Moderne, dass die jeweiligen Sieger der Sinndefinition ein tief und meist sentimental empfundenes Mitleid mit Vertretern vernichteter Kulturen der fernen Vergangenheit durchaus als moralisch und emotional angenehm schätzen, aber Verachtung für Symbole derjenigen Kultur empfinden, die sie selbst soeben vernichten.
Das Zusammentreffen ost- und westdeutscher Sprache offenbarte — trotz der nur 40 Jahre dauernden Trennung und des immerhin (wenn auch nur einseitig) vorhandenen Austausches mittels Fernsehen — eine Vielzahl solcher Verschiebungen, die teilweise bis heute andauern. Dasselbe geschieht, im Alltag meist unmerklich, auch innerhalb eines Sprachraums: Was man heute unter Begriffen wie „Sport“, „Kultur“, „Arbeit“, „Familie“ versteht, ist keineswegs dasselbe wie vor 50 Jahren. Beispielhaft: Was heute als (kriminelle) „Gewalt gegen Kinder“ beschrieben wird, ging 1960 problemlos als „konsequente Erziehung“ durch.
Die Texte eines Gesetzes „verändern“ sich in ihren Bedeutungen und Sinnzusammenhängen also selbst dann, wenn sie im Wortlaut unverändert bleiben. Je älter Gesetzestexte sind, desto mehr Bedeutungsunschärfen können sich ansammeln. Für das Strafgesetz (wie für jedes andere Gesetz) hat all das erhebliche Folgen: So muss der Gesetzgeber versuchen, bei der Formulierung von Vorschriften so genau zu sein, dass möglichst wenige Zweifel am Inhalt und an der Bedeutung der verwendeten Begriffe bleiben.

Thomas Fischer
Textauszug aus "Über das Strafen"
Droemer Verlag

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