Die Leute lesen
immer weniger, sagen die einen.
Nein, sagen die anderen, die Leute
lesen den ganzen Tag, sie lesen nur eben oft nicht Druckerzeugnisse,
sondern Websites… Das ist kein richtiges Lesen, versetzen Dritte,
denn es ist kurzatmig und vergleichsweise unkonzentriert. ...
27 Mal in der
Stunde, wollen amerikanische Forscher herausgefunden haben, wechseln
Zwanzigjährige heute das Medium, zwischen 150 und 190 Mal am Tag
checken sie ihre E-Mails. Aber auch für die Älteren gilt: Wer von
ihnen würde das Berufs- oder Privatleben noch als eines beschreiben,
in dem es Handlungseinheiten gibt, die ununterbrochen eine Stunde
dauern?
Es scheint also
nicht so sehr das Lesen als solches, sondern das langanhaltende,
selbstversunkene Lesen rückläufig zu sein. Und damit die Chance
bestimmter Texte, noch Leser zu finden. Die App „Spritz“ etwa
verspricht, die Lesegeschwindigkeit ihrer Nutzer von 250 Wörter pro
Minute ohne Verständnisverluste auf 400 zu erhöhen. Aber, zitiert
Naomi Baron den Geschäftsführer von Spritz, „man würde nicht
Homer oder Shakespeare so lesen wollen“.
Vielleicht auch
nicht Proust, Kant, Marx oder Jane Austen, vielleicht überhaupt
nichts Schwieriges, nichts, das mit vielen Hin- und Her-Erwägungen
versehen ist, nichts, das man zweimal und bis zum Ende lesen muss, um
es zu verstehen. Eine Untersuchung des amerikanischen Citations
Project, einer Forschungsgruppe mehrerer Universitäten, die
erforscht, wie Studenten mit Lehrmaterial umgehen, wie sie
argumentieren und wie sie schreiben, bestätigt das. Beinahe die
Hälfte aller Zitate, die sich in den Referaten der Studenten fanden,
stammten von der ersten Seite der zitierten Quelle, und drei Viertel
aller Zitate waren den ersten drei Seiten eines Textes entnommen. Man
nimmt das erste Beste und liest nicht weiter.
Das reduziert das
Risiko, von einem Text überrascht zu werden. Durch Lesen zu finden,
was man nicht
gesucht hat, dafür bedürfte es Zeit, die nicht nur
Geld ist, sondern auch Umweg und Reifung und Geduld. Die schnellen
Zugriffe auf möglichst kurze Texte bringen den Nachteil mit sich,
dass man kleinere Fische aus dem Netz holt als aus Büchern, deren
Gedankengang man weit über den Punkt hinaus folgt, an dem sie die
ersten befriedigenden Informationen anbieten.
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Die Frage ist
also letztlich nicht, wie viele Bücher verkauft werden. Die Frage
ist vielmehr, ob die Qualität unserer Aufmerksamkeit, unserer
Argumente, unseres Gedächtnisses und unserer Imagination dieselbe
bleibt, wenn wir anders lesen. Etwas gut zu können beispielsweise,
sind sich Kognitionspsychologen einig, ist eine Folge wiederholender
Übung und der Verankerung von Mustern im Langzeitgedächtnis. Am
besten aber werde dort verankert, worüber man insistent und
Schwierigkeiten überwindend nachgedacht habe. Das gilt nicht nur für
Wissensbestände und Handlungsroutinen, sondern auch für das
Nachdenken über Personen, die Fähigkeit, sich in sie
hineinzuversetzen. Dazu erziehen beispielsweise unter den Romanen und
Theaterstücken die guten. Entsprechend ist es auch nicht die Frage,
ob noch gelesen wird, sondern ob noch gut gelesen wird.
Ausriss
aus „Die Woche“,
Jürgen Kaube, Oktober 2018.
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