Freitag, 12. Oktober 2018

Die Krise des Lesens


Die Leute lesen immer weniger, sagen die einen. 
Nein, sagen die anderen, die Leute lesen den ganzen Tag, sie lesen nur eben oft nicht Druckerzeugnisse, sondern Websites… Das ist kein richtiges Lesen, versetzen Dritte, denn es ist kurzatmig und vergleichsweise unkonzentriert. ...
    27 Mal in der Stunde, wollen amerikanische Forscher herausgefunden haben, wechseln Zwanzigjährige heute das Medium, zwischen 150 und 190 Mal am Tag checken sie ihre E-Mails. Aber auch für die Älteren gilt: Wer von ihnen würde das Berufs- oder Privatleben noch als eines beschreiben, in dem es Handlungseinheiten gibt, die ununterbrochen eine Stunde dauern?
Es scheint also nicht so sehr das Lesen als solches, sondern das langanhaltende, selbstversunkene Lesen rückläufig zu sein. Und damit die Chance bestimmter Texte, noch Leser zu finden. Die App „Spritz“ etwa verspricht, die Lesegeschwindigkeit ihrer Nutzer von 250 Wörter pro Minute ohne Verständnisverluste auf 400 zu erhöhen. Aber, zitiert Naomi Baron den Geschäftsführer von Spritz, „man würde nicht Homer oder Shakespeare so lesen wollen“.
     Vielleicht auch nicht Proust, Kant, Marx oder Jane Austen, vielleicht überhaupt nichts Schwieriges, nichts, das mit vielen Hin- und Her-Erwägungen versehen ist, nichts, das man zweimal und bis zum Ende lesen muss, um es zu verstehen. Eine Untersuchung des amerikanischen Citations Project, einer Forschungsgruppe mehrerer Universitäten, die erforscht, wie Studenten mit Lehrmaterial umgehen, wie sie argumentieren und wie sie schreiben, bestätigt das. Beinahe die Hälfte aller Zitate, die sich in den Referaten der Studenten fanden, stammten von der ersten Seite der zitierten Quelle, und drei Viertel aller Zitate waren den ersten drei Seiten eines Textes entnommen. Man nimmt das erste Beste und liest nicht weiter.
      Das reduziert das Risiko, von einem Text überrascht zu werden. Durch Lesen zu finden, was man nicht gesucht hat, dafür bedürfte es Zeit, die nicht nur Geld ist, sondern auch Umweg und Reifung und Geduld. Die schnellen Zugriffe auf möglichst kurze Texte bringen den Nachteil mit sich, dass man kleinere Fische aus dem Netz holt als aus Büchern, deren Gedankengang man weit über den Punkt hinaus folgt, an dem sie die ersten befriedigenden Informationen anbieten.
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    Die Frage ist also letztlich nicht, wie viele Bücher verkauft werden. Die Frage ist vielmehr, ob die Qualität unserer Aufmerksamkeit, unserer Argumente, unseres Gedächtnisses und unserer Imagination dieselbe bleibt, wenn wir anders lesen. Etwas gut zu können beispielsweise, sind sich Kognitionspsychologen einig, ist eine Folge wiederholender Übung und der Verankerung von Mustern im Langzeitgedächtnis. Am besten aber werde dort verankert, worüber man insistent und Schwierigkeiten überwindend nachgedacht habe. Das gilt nicht nur für Wissensbestände und Handlungsroutinen, sondern auch für das Nachdenken über Personen, die Fähigkeit, sich in sie hineinzuversetzen. Dazu erziehen beispielsweise unter den Romanen und Theaterstücken die guten. Entsprechend ist es auch nicht die Frage, ob noch gelesen wird, sondern ob noch gut gelesen wird.

Ausriss aus „Die Woche“,
Jürgen Kaube, Oktober 2018.
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