Autor Werner Fuld
hat in seiner scharfsinnigen Raabe Biografie Erläuterungen gegeben,
wie die Zensur jener Tage zustande kam.
Seite 22 ff.:
… in Raabes
Erstlingsbuch »Die Chronik der Sperlingsgasse«‚ fügt er bitter
hinzu:
„Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab,
wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und
Töchter.“ (BA 1. 148).
Nicht allein
die Armut zwang zur Auswanderung, sondern auch die
politischen Verhältnisse.
In den
Freiheitskriegen hatten sich die Deutschen gegen die Herrschaft
Napoleons vereint und ihn geschlagen: nun hofften sie auf einen
deutschen Nationalstaat, dessen Gründung der österreichische
Staatskanzler Metternich mit allen Mitteln zu verhindern suchte.
Unter seinem Vorsitz kam es als Ergebnis des Wiener Kongresses
(1815) zu einem »Deutschen Bund«, der zunächst 34, zuletzt (1866)
immer noch 28 souveräne Fürstentümer und vier freie Städte
umfasste. Dieses Staatsgebilde entsprach in keiner Weise den
nationalen Erwartungen, da durch die Souveränitätsgarantien für
die Kleinfürsten eine Weiterentwicklung vom Staatenbund zum
Nationalstaat schon juristisch ausgeschlossen war. In seinem frühen
Roman »Die Leute aus dem Walde« kommentiert Raabe diese Politik mit
deutlichem Sarkasmus:
„Über die Blutflecke fuhren die Kongreß-Herren mit ihren Pinseln
voll blauer, grüner, gelber Farbe, zeichneten Grenzen und teilten
Nationen im Namen der Einen und unteilbaren Dreieinigkeit und
forderten die Völker auf, demütig Gott zu preisen und ihm Lob zu
singen. Sie selbst freilich priesen nur ihre eigene Schlauheit und
Gewandtheit; Gott aber sah, daß nicht alles gut war.“ (BA 5. 84).
Noch bevor das
zentrale Organ des »Deutschen Bundes«‚ die in Frankfurt
tagende‘ Bundesversammlung (auch »Bundestag« genannt), am 5.
November 1816 durch den präsidierenden österreichischen Gesandten
eröffnet wurde, hatte sich in Jena mit der Gründung der Deutschen
Burschenschaft eine politische
Opposition organisiert. Ihre Fahne trug die Farben Schwarz-Rot-Gold,
die im Kampf gegen Napoleon die Farben des Lützowschen Corps gewesen
waren. Am 18. Oktober 1817 luden die Burschenschaften zum
»Wartburgfest« ein, das zur Erinnerung an die Völkerschlacht
bei Leipzig und aus Anlass des 300-jährigen Jubiläums der
Reformation gefeiert werden sollte und das zur ersten großen
Demonstration gegen das Metternich-Regime wurde. Aus der Wahl des
Ortes wird deutlich, dass die Hoffnung auf eine großdeutsche Lösung
mit Einbeziehung Österreichs schon nicht mehr bestand; man
befürwortete inzwischen eine Staatsgründung unter preußischer
Führung.
Das Fest verlief bei schönem \Wetter und Gottesdienst
zunächst sehr ruhig. Erst als am Abend ein großes Oktoberfeuer
entzündet wurde, begann ein Berliner Student in Analogie zu Luthers
Verbrennung der päpstlichen Bulle damit, Bücher ins Feuer zu
werfen, die den reaktionären Zeitgeist symbolisieren sollten: Da es
sich, entgegen allen später verbreiteten Darstellungen, um eine
spontane Aktion handelte, wurden von den Studenten rasch alle
zufällig mitgebrachten Bücher eingesammelt und die Titel eilig mit
den Namen der Gegner übermalt. Auf diese symbolische Weise wanderten
ins Feuer: Die berüchtigte Denunziationsschrift des Berliner Beamten
Schmalz, dessen Name damals zum abfälligsten Schimpfwort wurde, der
Code Napoleon, Hallers »Restauration der Staatswissenschaft«,
Kamptz’ Polizeiordnung (er hat das Wort »Polizeistaat« in Umlauf
gebracht) und Titel von Kotzebue … Nichts konnte Metternichs
Staatsmacht gelegener kommen als dieser Terroranschlag (Mord an
Kotzebue 13. März
1819 durch Burschenschafter Sander). Sofort wurde die Fiktion
verbreitet, der Attentäter hätte als Mitglied einer jederzeit zu
weiteren Anschlägen gerüsteten Geheimorganisation gehandelt, und
die wichtigsten Teilnehmer des nachträglich als staatsgefährdend
erkannten Wartburgfestes wurden verhaftet. Am Ende des Juli 1819 trat
auf Veranlassung Metternichs eine Ministerkonferenz im böhmischen
Karlsbad zusammen, deren Beschlüsse gegen die
nationalen und liberalen Bestrebungen am 20. September vom
Bundestag als Gesetz verabschiedet wurden. Sie enthielten eine
Verschärfung der Zensur für alle Schriften bis 320 Seiten,
die Überwachung der Presse durch Vorzensur, ein
fünfjähriges Berufsverbot für jeden
Redakteur einer verbotenen Zeitung; das Verbot der
Burschenschaften und die Aufhebung der
Universitätssouveränität, weil die
Studenten angeblich als »Ersatz für die in ganz unbrauchbaren
Studien erschöpften Kräfte« einen Ausgleich in geheimen
Verbindungen suchten. So hatte man einen bequemen Vorwand für die
Verschulung des Vorlesungsbetriebs. Die nachhaltigste Wirkung aber
zeigte die Einsetzung einer zentralen Untersuchungskommission
in Mainz, deren Aufgabe es war, Belastungsmaterial gegen
der Opposition verdächtigte Individuen zu sammeln. Auf
Anfrage der Kommission mussten die jeweiligen Regierungen das bei
ihnen möglicherweise gegen einzelne Personen bereits vorliegende
Material unverzüglich und vollständig
zur Verfügung stellen. Sie verpflichteten sich
auch‚ Lehrer auf Dauer aus dem Dienst zu entlassen, denen
unterstellt wurde, sie gefährdeten die „Grundlagen der
bestehenden Staatseinrichtungen“. Jede Einwirkung des Bundestags
auf deren Arbeit oder gar eine Kontrolle waren
ausgeschlossen. Die Souveränität der Bundesstaaten war auch
dadurch unterlaufen, dass die Kommission in Artikel 7 berechtigt
wurde, Verhaftungen eigenmächtig durchzuführen und Verdächtige
nach Mainz bringen zu lassen. Erst das
1860 veröffentlichte Buch von Leopold Ilse, »Geschichte
der politischen Untersuchungen«, zeigte einer breiteren
Öffentlichkeit die polizeistaatlichen Arbeitsmethoden und
fragwürdigen Untersuchungsergebnisse dieser Kommission. Es handelte
sich um eine autonome Behörde, die zwar von einem Teil der
Bundesregierungen eingesetzt wurde, aber den ohnehin geringen
Möglichkeiten und Kompetenzen des Bundestages entgegenarbeitete. Mit
ihrer Einrichtung und jahrelangen Tätigkeit zerrann die politische
Vision eines deutschen Nationalstaats, die nicht nur die Studenten
seit 1813 begeistert hatte‚ für lange Jahrzehnte zu einer vagen
Utopie. …
Die Hoffnung auf
politische Einheit und verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte
hatte sich nach der Erhebung gegen Napoleon nicht erfüllt. Kunstvoll
baut Raabe in dieser kleinen Episode (Sperlingsgasse, Großmutter
Karsten) einen Spannungsbogen auf, den er mehrfach – analog
zur historischen Entwicklung – nur scheinbar abbrechen lässt. Auf
dem Höhepunkt schlägt die Verbitterung und Resignation um in eine
neue politische Hoffnung: Wenn die Opfer der Freiheitskriege doch
nicht sinnlos gewesen sein sollen, müssen die Nachgeborenen die
alten Ideen bewahren und zu realisieren versuchen. Diese Überzeugung
eint den kleinen Zuhörerkreis und zieht den zeitgenössischen Leser
nach 1848, als deutsche Einheit und Demokratie wieder nicht gelungen
waren, in eine leise Verschwörung hinein. Nicht Freiheitslieder
werden hier gesungen, auch nicht lauthals politische Parolen
verkündet, sondern – das Essen wird aufgetragen. Das utopische
Ideal wird mit der Alltagsrealität konfrontiert, aber
deswegen nicht vergessen. Es bedarf in diesem Kreis keiner mahnenden
Erinnerung, dass diejenigen, die in der Metternich-Ära die alten
Forderungen nach Verfassung und Nationalstaat allzu laut und deutlich
geäußert hatten, verfolgt und eingesperrt worden sind oder
emigrieren mussten.
Ende.