Donnerstag, 29. Oktober 2020

Frischer Wind für den Lesetisch.

In Raabes Werken leuchtet häufig heraus, das er seinen Zeitgenossen meilenweit voraus war - aber immer diese Fraktur!

Verleger Herbert Friedrich Witzel hat nun in seinem Projekt, Werke vergangener Schriftsteller in aktueller Form zur Verfügung zu stellen, Raabes „DREI FEDERN“ neu herausgebracht. 

Im Verlag Worttransport.
150 Jahre gereifter Inhalt
 - in moderner Form.

Es ist schon höchst erstaunlich – wenn auch nicht verwunderlich – welch großen Effekt auf das Leseverständnis die moderne Schrifttype hat; die Frakturschrift ist zumindest für den modernen Leser ganz schwer verdaulich mit ihren B und V, M und W, ihren S, SS, SZ, N un R, etc.. 

Viele ungeübte Leser geben sich der zusätzlichen Entzifferungsarbeit schon gar nicht mehr hin und lassen Raabe ungelesen – welch ein Verlust!

Beweis: schon der erste Satz zum Familienleben ist unmissverständlich wahr und atmet ein für Raabe so typisches, warmes Verstehen - aber in moderner Schrift ist es einfacher, oder?

„Es ist eine naturhistorische Wahrheit, daß nicht alle Tiere, welche in größter Gesellschaft, inmitten eines Gewimmels von Brüdern und Schwestern, das Licht der Welt erblicken, später in dieser Gemeinschaft fröhlich und harmlos weiterleben.“

„Es ist eine naturhistorische Wahrheit, daß nicht alle Tiere, welche in größter Gesellschaft, inmitten eines Gewimmels von Brüdern und Schwestern, das Licht der Welt erblicken, später in dieser Gemeinschaft fröhlich und harmlos weiterleben.“

Sollte man so einem Autoren den Rücken kehren, nur weil es unbequem ist, die Fraktur zu lesen?

Herr Witzel ist mit seinem Verlag die Frage aktiv angegangen und bringt uns viele frühe Buchsetzungen, auch anderer Autoren, mit frischen Wind zurück, siehe www.worttransport.de.

Ende.


Donnerstag, 8. Oktober 2020

Lehrer leisten das Mögliche - PISA


Die künftigen PISA-Verlierer stehen schon fest,

 auch die nächsten Studien mit dem Schwerpunkt Lesen werden kaum besser ausfallen.

… Die schlechte Nachricht ist: Die schwachen Leser von Pisa 2021 bis Pisa 2027 stehen wohl auch schon fest. Das sind die Kinder, die zwischen 2011 und 2017 ebenso in ihren Schuleingangsuntersuchungen bereits sprachlich auffällig geworden sind. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil. Die neuesten Berichte aus den Gesundheitsämtern der großen Kommunen klingen wenig ermutigend. Bis zu 30 Prozent der Kinder ohne Zuwanderungshintergrund und sogar mehr als 50 Prozent der Kinder mit einer anderen als der deutschen Muttersprache tun sich schwer mit der korrekten Verwendung von Präpositionen und Artikeln, bei der Pluralbildung und mit dem Formulieren und Verstehen vollständiger Sätze. Für viele von ihnen wird es zu Problemen beim Schriftspracherwerb kommen. Es wäre ein Wunder, könnten die Grundschullehrer sprachliche Defizite dieses Ausmaßes im Anfangsunterricht ausgleichen.

Längst ist auch die Grundschulwelt nicht mehr in Ordnung, wie die Ergebnisse der letzten Grundschul-Leseuntersuchung (Iglu) deutlich gemacht haben. Für fast 20 Prozent der Zehnjährigen ist absehbar, dass sie aufgrund ihrer schwachen Lesekompetenz in der weiterführenden Schule erhebliche Schwierigkeiten nicht nur mit dem Lesen, sondern mit dem Lernen in allen Fächern bekommen werden. In Grundschulen in Deutschland wird im internationalen Vergleich insgesamt viel zu wenig gelesen und die leseschwachen Kinder werden nicht intensiv genug gefördert. Problem: Unterricht fällt aus und der Deutsch- und Mathematikunterricht wird gelegentlich noch fachfremd und in Zeiten des Lehrermangels zuweilen sogar durch Quer— und Seiteneinsteiger ohne grundständiges Studium oder einschlägige pädagogische Qualifikationen gehalten. Bleibt das so, kann man sich die aufwendige Lehrerausbildung auch gleich schenken.

Eine lückenlose Leseförderung muss mit der systematischen Sprachförderung im Kindergarten beginnen. Immer noch wissen wir deshalb viel zu wenig über geeignete Methoden und über Gelingensbedingungen vorschulischer Sprachförderung. Es bringt wenig, gebetsmühlenartig auf die Verantwortung der Eltern für die Sprachentwicklung ihrer Kinder zu verweisen, solange es eine Reihe von Eltern gibt, die diese Verantwortung nicht wahrnehmen können oder wollen. Vielleicht kann die Verhaltensökonomik mit einem Vorschlag aufwarten, welcher merklichen Schubser es bedarf, um die kooperationsunwilligen Eltern mit ins Boot zu bekommen. Dass die Disparitäten größer geworden sind, liegt auch daran, dass der Anteil der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund gestiegen ist und dass es unter diesen vergleichsweise mehr gibt, die in familiären Risikolagen aufwachsen und die es aufgrund ihrer sprachlichen Sozialisation in der Schule schwerer haben. Auch hier bringt es wenig, die bekannten Ungleichheiten der Lesekompetenz periodisch aufs Neue zu beklagen. Sie fallen schließlich nicht vom Himmel, sondern sind logische Folge des Aufwachsens in familiären Risikolagen und der in Kindergärten und Schulen unterlassenen Hilfestellungen, dass ausgerechnet jene Kinder zu Hause nicht vorgelesen bekommen, die es am nötigsten hätten, ist fatal. Auch dass Eltern mit einem niedrigen Bildungsniveau ungünstige Sprachvorbilder sind, weil sie zu wenig und zu wenig differenziert mit ihren Kindern (deutsch) sprechen. Die Eingriffsmöglichkeiten in die Familien sind begrenzt. Zudem wissen wir noch nicht einmal, welche Eingriffe erfolgversprechend wären.
Zumindest für den Bereich der schulischen Leseförderung stehen bewährte Verfahren bereit. Und wenn es nicht eine Vielzahl engagierter und hochprofessionell ausgebildeter Lehrer gäbe, die sie längst einsetzten, wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Sie leisten — unter zunehmend schwierigeren Rahmenbedingungen — das Mögliche, zumal es neben der Leseförderung auch noch andere Anforderungen im Klassenzimmer gibt. Dennoch bedarf es erheblicher zusätzlicher Ressourcen.

Pisa ist nur das Ende der Fehlerkette. Dass 50 Prozent der 15 Jahre alten Schüler übrigens nicht freiwillig lesen, sondern, nur wenn sie müssen, ist dabei weder ein neuartiges noch ein auf Deutschland begrenztes Phänomen. Die Leseabstinenz der Jugendlichen ist wohl keine Ursache, sondern eher eine Folge ihrer mangelnden Lesekompetenz.
Wer nicht gut liest, liest nicht gern!

Von Andreas Gold.
Der Autor hat pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main gelehrt und war bis 2009 deren Vizepräsident.
Teilweiser Ausriss aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 2019.

Ende.

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Nicht allein die Armut zwang zur Auswanderung.


Autor Werner Fuld hat in seiner scharfsinnigen Raabe Biografie Erläuterungen gegeben, wie die Zensur jener Tage zustande kam. 

Seite 22 ff.:
… in Raabes Erstlingsbuch »Die Chronik der Sperlingsgasse«‚ fügt er bitter hinzu:
„Die Weser trägt keine fremden Leichen mehr zur Nordsee hinab, wohl aber murrend und grollend ihre eigenen unglücklichen Söhne und Töchter.“ (BA 1. 148).
Nicht allein die Armut zwang zur Auswanderung, sondern auch die politischen Verhältnisse.

In den Freiheitskriegen hatten sich die Deutschen gegen die Herrschaft Napoleons vereint und ihn geschlagen: nun hofften sie auf einen deutschen Nationalstaat, dessen Gründung der österreichische Staatskanzler Metternich mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Unter seinem Vorsitz kam es als Ergebnis des Wiener Kongresses (1815) zu einem »Deutschen Bund«, der zunächst 34, zuletzt (1866) immer noch 28 souveräne Fürstentümer und vier freie Städte umfasste. Dieses Staatsgebilde entsprach in keiner Weise den nationalen Erwartungen, da durch die Souveränitätsgarantien für die Kleinfürsten eine Weiterentwicklung vom Staatenbund zum Nationalstaat schon juristisch ausgeschlossen war. In seinem frühen Roman »Die Leute aus dem Walde« kommentiert Raabe diese Politik mit deutlichem Sarkasmus:
„Über die Blutflecke fuhren die Kongreß-Herren mit ihren Pinseln voll blauer, grüner, gelber Farbe, zeichneten Grenzen und teilten Nationen im Namen der Einen und unteilbaren Dreieinigkeit und forderten die Völker auf, demütig Gott zu preisen und ihm Lob zu singen. Sie selbst freilich priesen nur ihre eigene Schlauheit und Gewandtheit; Gott aber sah, daß nicht alles gut war.“ (BA 5. 84).
Noch bevor das zentrale Organ des »Deutschen Bundes«‚ die in Frankfurt tagende‘ Bundesversammlung (auch »Bundestag« genannt), am 5. November 1816 durch den präsidierenden österreichischen Gesandten eröffnet wurde, hatte sich in Jena mit der Gründung der Deutschen Burschenschaft eine politische Opposition organisiert. Ihre Fahne trug die Farben Schwarz-Rot-Gold, die im Kampf gegen Napoleon die Farben des Lützowschen Corps gewesen waren. Am 18. Oktober 1817 luden die Burschenschaften zum »Wartburgfest« ein, das zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig und aus Anlass des 300-jährigen Jubiläums der Reformation gefeiert werden sollte und das zur ersten großen Demonstration gegen das Metternich-Regime wurde. Aus der Wahl des Ortes wird deutlich, dass die Hoffnung auf eine großdeutsche Lösung mit Einbeziehung Österreichs schon nicht mehr bestand; man befürwortete inzwischen eine Staatsgründung unter preußischer Führung.
Das Fest verlief bei schönem \Wetter und Gottesdienst zunächst sehr ruhig. Erst als am Abend ein großes Oktoberfeuer entzündet wurde, begann ein Berliner Student in Analogie zu Luthers Verbrennung der päpstlichen Bulle damit, Bücher ins Feuer zu werfen, die den reaktionären Zeitgeist symbolisieren sollten: Da es sich, entgegen allen später verbreiteten Darstellungen, um eine spontane Aktion handelte, wurden von den Studenten rasch alle zufällig mitgebrachten Bücher eingesammelt und die Titel eilig mit den Namen der Gegner übermalt. Auf diese symbolische Weise wanderten ins Feuer: Die berüchtigte Denunziationsschrift des Berliner Beamten Schmalz, dessen Name damals zum abfälligsten Schimpfwort wurde, der Code Napoleon, Hallers »Restauration der Staatswissenschaft«, Kamptz’ Polizeiordnung (er hat das Wort »Polizeistaat« in Umlauf gebracht) und Titel von Kotzebue … Nichts konnte Metternichs Staatsmacht gelegener kommen als dieser Terroranschlag (Mord an Kotzebue 13. März 1819 durch Burschenschafter Sander). Sofort wurde die Fiktion verbreitet, der Attentäter hätte als Mitglied einer jederzeit zu weiteren Anschlägen gerüsteten Geheimorganisation gehandelt, und die wichtigsten Teilnehmer des nachträglich als staatsgefährdend erkannten Wartburgfestes wurden verhaftet. Am Ende des Juli 1819 trat auf Veranlassung Metternichs eine Ministerkonferenz im böhmischen Karlsbad zusammen, deren Beschlüsse gegen die nationalen und liberalen Bestrebungen am 20. September vom Bundestag als Gesetz verabschiedet wurden. Sie enthielten eine Verschärfung der Zensur für alle Schriften bis 320 Seiten, die Überwachung der Presse durch Vorzensur, ein fünfhriges Berufsverbot für jeden Redakteur einer verbotenen Zeitung; das Verbot der Burschenschaften und die Aufhebung der Universitätssouveränität, weil die Studenten angeblich als »Ersatz für die in ganz unbrauchbaren Studien erschöpften Kräfte« einen Ausgleich in geheimen Verbindungen suchten. So hatte man einen bequemen Vorwand für die Verschulung des Vorlesungsbetriebs. Die nachhaltigste Wirkung aber zeigte die Einsetzung einer zentralen Untersuchungskommission in Mainz, deren Aufgabe es war, Belastungsmaterial gegen der Opposition verdächtigte Individuen zu sammeln. Auf Anfrage der Kommission mussten die jeweiligen Regierungen das bei ihnen möglicherweise gegen einzelne Personen bereits vorliegende Material unverzüglich und vollständig zur Verfügung stellen. Sie verpflichteten sich auch‚ Lehrer auf Dauer aus dem Dienst zu entlassen, denen unterstellt wurde, sie gefährdeten die „Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen“. Jede Einwirkung des Bundestags auf deren Arbeit oder gar eine Kontrolle waren ausgeschlossen. Die Souveränität der Bundesstaaten war auch dadurch unterlaufen, dass die Kommission in Artikel 7 berechtigt wurde, Verhaftungen eigenmächtig durchzuführen und Verdächtige nach Mainz bringen zu lassen. Erst das 1860 veröffentlichte Buch von Leopold Ilse, »Geschichte der politischen Untersuchungen«, zeigte einer breiteren Öffentlichkeit die polizeistaatlichen Arbeitsmethoden und fragwürdigen Untersuchungsergebnisse dieser Kommission. Es handelte sich um eine autonome Behörde, die zwar von einem Teil der Bundesregierungen eingesetzt wurde, aber den ohnehin geringen Möglichkeiten und Kompetenzen des Bundestages entgegenarbeitete. Mit ihrer Einrichtung und jahrelangen Tätigkeit zerrann die politische Vision eines deutschen Nationalstaats, die nicht nur die Studenten seit 1813 begeistert hatte‚ für lange Jahrzehnte zu einer vagen Utopie. …

Die Hoffnung auf politische Einheit und verfassungsmäßig garantierte Bürgerrechte hatte sich nach der Erhebung gegen Napoleon nicht erfüllt. Kunstvoll baut Raabe in dieser kleinen Episode (Sperlingsgasse, Großmutter Karsten) einen Spannungsbogen auf, den er mehrfach – analog zur historischen Entwicklung – nur scheinbar abbrechen lässt. Auf dem Höhepunkt schlägt die Verbitterung und Resignation um in eine neue politische Hoffnung: Wenn die Opfer der Freiheitskriege doch nicht sinnlos gewesen sein sollen, müssen die Nachgeborenen die alten Ideen bewahren und zu realisieren versuchen. Diese Überzeugung eint den kleinen Zuhörerkreis und zieht den zeitgenössischen Leser nach 1848, als deutsche Einheit und Demokratie wieder nicht gelungen waren, in eine leise Verschwörung hinein. Nicht Freiheitslieder werden hier gesungen, auch nicht lauthals politische Parolen verkündet, sondern – das Essen wird aufgetragen. Das utopische Ideal wird mit der Alltagsrealität konfrontiert, aber deswegen nicht vergessen. Es bedarf in diesem Kreis keiner mahnenden Erinnerung, dass diejenigen, die in der Metternich-Ära die alten Forderungen nach Verfassung und Nationalstaat allzu laut und deutlich geäußert hatten, verfolgt und eingesperrt worden sind oder emigrieren mussten.
Ende.