Die künftigen PISA-Verlierer stehen schon fest,
auch die nächsten
Studien mit dem Schwerpunkt Lesen werden kaum besser ausfallen.
… Die schlechte Nachricht ist: Die schwachen Leser
von Pisa 2021 bis Pisa 2027 stehen wohl auch
schon fest. Das sind die Kinder, die zwischen 2011 und 2017
ebenso in ihren Schuleingangsuntersuchungen bereits sprachlich
auffällig geworden sind. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht in
Sicht. Ganz im Gegenteil. Die neuesten Berichte aus den
Gesundheitsämtern der großen Kommunen klingen wenig ermutigend. Bis
zu 30 Prozent der Kinder ohne Zuwanderungshintergrund und sogar
mehr als 50 Prozent der Kinder mit einer anderen als der
deutschen Muttersprache tun sich schwer mit der korrekten Verwendung
von Präpositionen und Artikeln, bei der Pluralbildung und mit dem
Formulieren und Verstehen vollständiger Sätze. Für viele von ihnen
wird es zu Problemen beim Schriftspracherwerb kommen. Es wäre ein
Wunder, könnten die Grundschullehrer sprachliche Defizite dieses
Ausmaßes im Anfangsunterricht ausgleichen.
Längst ist auch die Grundschulwelt nicht mehr in Ordnung, wie die
Ergebnisse der letzten Grundschul-Leseuntersuchung (Iglu) deutlich
gemacht haben. Für fast 20 Prozent der Zehnjährigen ist absehbar,
dass sie aufgrund ihrer schwachen Lesekompetenz in der
weiterführenden Schule erhebliche Schwierigkeiten nicht nur
mit dem Lesen, sondern mit dem Lernen in allen
Fächern bekommen werden. In Grundschulen in Deutschland wird im
internationalen Vergleich insgesamt viel zu wenig gelesen und die
leseschwachen Kinder werden nicht intensiv genug gefördert. Problem:
Unterricht fällt aus und der Deutsch- und Mathematikunterricht wird
gelegentlich noch fachfremd und in Zeiten des Lehrermangels zuweilen
sogar durch Quer— und Seiteneinsteiger ohne grundständiges Studium
oder einschlägige pädagogische Qualifikationen gehalten. Bleibt das
so, kann man sich die aufwendige Lehrerausbildung auch gleich
schenken.
Eine lückenlose Leseförderung muss mit der systematischen
Sprachförderung im Kindergarten beginnen. Immer noch wissen wir
deshalb viel zu wenig über geeignete Methoden und über
Gelingensbedingungen vorschulischer Sprachförderung. Es bringt
wenig, gebetsmühlenartig auf die Verantwortung der Eltern für die
Sprachentwicklung ihrer Kinder zu verweisen, solange es eine Reihe
von Eltern gibt, die diese Verantwortung nicht wahrnehmen können
oder wollen. Vielleicht kann die Verhaltensökonomik mit einem
Vorschlag aufwarten, welcher merklichen Schubser es bedarf, um die
kooperationsunwilligen Eltern mit ins Boot zu bekommen. Dass die
Disparitäten größer geworden sind, liegt auch daran, dass der
Anteil der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund gestiegen ist und
dass es unter diesen vergleichsweise mehr gibt, die in familiären
Risikolagen aufwachsen und die es aufgrund ihrer sprachlichen
Sozialisation in der Schule schwerer haben. Auch hier bringt es
wenig, die bekannten Ungleichheiten der Lesekompetenz periodisch aufs
Neue zu beklagen. Sie fallen schließlich nicht vom Himmel, sondern
sind logische Folge des Aufwachsens in familiären Risikolagen und
der in Kindergärten und Schulen unterlassenen Hilfestellungen, dass
ausgerechnet jene Kinder zu Hause nicht vorgelesen bekommen,
die es am nötigsten hätten, ist fatal. Auch dass Eltern mit einem
niedrigen Bildungsniveau ungünstige Sprachvorbilder sind,
weil sie zu wenig und zu wenig differenziert mit ihren Kindern
(deutsch) sprechen. Die Eingriffsmöglichkeiten in die Familien sind
begrenzt. Zudem wissen wir noch nicht einmal, welche Eingriffe
erfolgversprechend wären.
Zumindest für den Bereich der schulischen Leseförderung stehen
bewährte Verfahren bereit. Und wenn es nicht eine Vielzahl
engagierter und hochprofessionell ausgebildeter Lehrer gäbe, die sie
längst einsetzten, wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Sie
leisten — unter zunehmend schwierigeren Rahmenbedingungen — das
Mögliche, zumal es neben der Leseförderung auch noch andere
Anforderungen im Klassenzimmer gibt. Dennoch bedarf es erheblicher
zusätzlicher Ressourcen.
Pisa ist nur das Ende der Fehlerkette. Dass 50 Prozent der 15 Jahre
alten Schüler übrigens nicht freiwillig lesen, sondern, nur wenn
sie müssen, ist dabei weder ein neuartiges noch ein auf Deutschland
begrenztes Phänomen. Die Leseabstinenz der Jugendlichen ist wohl
keine Ursache, sondern eher eine Folge ihrer mangelnden
Lesekompetenz.
Wer nicht gut liest, liest nicht gern!
Von Andreas Gold.
Der Autor hat pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität
Frankfurt am Main gelehrt und war bis 2009 deren Vizepräsident.
Teilweiser Ausriss aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember
2019.
Ende.