Donnerstag, 8. Oktober 2020

Lehrer leisten das Mögliche - PISA


Die künftigen PISA-Verlierer stehen schon fest,

 auch die nächsten Studien mit dem Schwerpunkt Lesen werden kaum besser ausfallen.

… Die schlechte Nachricht ist: Die schwachen Leser von Pisa 2021 bis Pisa 2027 stehen wohl auch schon fest. Das sind die Kinder, die zwischen 2011 und 2017 ebenso in ihren Schuleingangsuntersuchungen bereits sprachlich auffällig geworden sind. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil. Die neuesten Berichte aus den Gesundheitsämtern der großen Kommunen klingen wenig ermutigend. Bis zu 30 Prozent der Kinder ohne Zuwanderungshintergrund und sogar mehr als 50 Prozent der Kinder mit einer anderen als der deutschen Muttersprache tun sich schwer mit der korrekten Verwendung von Präpositionen und Artikeln, bei der Pluralbildung und mit dem Formulieren und Verstehen vollständiger Sätze. Für viele von ihnen wird es zu Problemen beim Schriftspracherwerb kommen. Es wäre ein Wunder, könnten die Grundschullehrer sprachliche Defizite dieses Ausmaßes im Anfangsunterricht ausgleichen.

Längst ist auch die Grundschulwelt nicht mehr in Ordnung, wie die Ergebnisse der letzten Grundschul-Leseuntersuchung (Iglu) deutlich gemacht haben. Für fast 20 Prozent der Zehnjährigen ist absehbar, dass sie aufgrund ihrer schwachen Lesekompetenz in der weiterführenden Schule erhebliche Schwierigkeiten nicht nur mit dem Lesen, sondern mit dem Lernen in allen Fächern bekommen werden. In Grundschulen in Deutschland wird im internationalen Vergleich insgesamt viel zu wenig gelesen und die leseschwachen Kinder werden nicht intensiv genug gefördert. Problem: Unterricht fällt aus und der Deutsch- und Mathematikunterricht wird gelegentlich noch fachfremd und in Zeiten des Lehrermangels zuweilen sogar durch Quer— und Seiteneinsteiger ohne grundständiges Studium oder einschlägige pädagogische Qualifikationen gehalten. Bleibt das so, kann man sich die aufwendige Lehrerausbildung auch gleich schenken.

Eine lückenlose Leseförderung muss mit der systematischen Sprachförderung im Kindergarten beginnen. Immer noch wissen wir deshalb viel zu wenig über geeignete Methoden und über Gelingensbedingungen vorschulischer Sprachförderung. Es bringt wenig, gebetsmühlenartig auf die Verantwortung der Eltern für die Sprachentwicklung ihrer Kinder zu verweisen, solange es eine Reihe von Eltern gibt, die diese Verantwortung nicht wahrnehmen können oder wollen. Vielleicht kann die Verhaltensökonomik mit einem Vorschlag aufwarten, welcher merklichen Schubser es bedarf, um die kooperationsunwilligen Eltern mit ins Boot zu bekommen. Dass die Disparitäten größer geworden sind, liegt auch daran, dass der Anteil der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund gestiegen ist und dass es unter diesen vergleichsweise mehr gibt, die in familiären Risikolagen aufwachsen und die es aufgrund ihrer sprachlichen Sozialisation in der Schule schwerer haben. Auch hier bringt es wenig, die bekannten Ungleichheiten der Lesekompetenz periodisch aufs Neue zu beklagen. Sie fallen schließlich nicht vom Himmel, sondern sind logische Folge des Aufwachsens in familiären Risikolagen und der in Kindergärten und Schulen unterlassenen Hilfestellungen, dass ausgerechnet jene Kinder zu Hause nicht vorgelesen bekommen, die es am nötigsten hätten, ist fatal. Auch dass Eltern mit einem niedrigen Bildungsniveau ungünstige Sprachvorbilder sind, weil sie zu wenig und zu wenig differenziert mit ihren Kindern (deutsch) sprechen. Die Eingriffsmöglichkeiten in die Familien sind begrenzt. Zudem wissen wir noch nicht einmal, welche Eingriffe erfolgversprechend wären.
Zumindest für den Bereich der schulischen Leseförderung stehen bewährte Verfahren bereit. Und wenn es nicht eine Vielzahl engagierter und hochprofessionell ausgebildeter Lehrer gäbe, die sie längst einsetzten, wäre alles noch viel schlimmer gekommen. Sie leisten — unter zunehmend schwierigeren Rahmenbedingungen — das Mögliche, zumal es neben der Leseförderung auch noch andere Anforderungen im Klassenzimmer gibt. Dennoch bedarf es erheblicher zusätzlicher Ressourcen.

Pisa ist nur das Ende der Fehlerkette. Dass 50 Prozent der 15 Jahre alten Schüler übrigens nicht freiwillig lesen, sondern, nur wenn sie müssen, ist dabei weder ein neuartiges noch ein auf Deutschland begrenztes Phänomen. Die Leseabstinenz der Jugendlichen ist wohl keine Ursache, sondern eher eine Folge ihrer mangelnden Lesekompetenz.
Wer nicht gut liest, liest nicht gern!

Von Andreas Gold.
Der Autor hat pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main gelehrt und war bis 2009 deren Vizepräsident.
Teilweiser Ausriss aus Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 2019.

Ende.