Donnerstag, 4. Juni 2020

Hand und Hirn


Zählen Sie zu den Menschen, die einen Füller zwischen drei Fingerspitzen halten und einen lesbaren und ästhetisch ansprechenden Text schreiben können?

Glückwunsch, Sie beherrschen eine Kulturtechnik, die vermutlich bald so elitär sein wird wie das Reiten im Damensattel. Die Industrialisierung hat mit Eisenbahnen und Automobilen das Reisen auf Pferderücken zu antiquarischen Kuriositäten gemacht; die Digitalisierung stellt mit ihren Smartphones, Tablets und Sprachassistenten dasselbe mit der Handschrift an. Längst führt sie Rückzugsgefechte auf Notizzetteln‚ in Kondolenzbriefen — und in der Schule. Dort trifft es die verbundene Schreibschrift besonders hart. Viele Kinder hierzulande beherrschen nur noch die an Druckbuchstaben orientierte Grundschrift. Wozu Schnörkel, wenn alle tippen oder Siri diktieren? Die Stiftung Handschrift, die sich der Rettung der Schreibschrift verschrieben hat, stellte kürzlich alarmierende Zahlen vor: 51 Prozent der Jungen und 31 Prozent der Mädchen in weiterführenden Schulen haben Probleme mit der Handschrift. In der Sekundarstufe I kann nur die Hälfte flüssig Schreibschrift schreiben, die andere fällt in die gedruckte Handschrift zurück. Zwei Drittel der Schüler bekommen nach zehn bis 15 Minuten einen Schreibkrampf. 
Kurrentschrift von Wilhelm Busch
"Schein und Sein"
Warum das ein Jammer ist? Weil Schreibschrift kein überflüssiger Dekor ist, sondern eine ganzheitliche Übung, die beim Denken hilft.

Wer Buchstaben erschafft, statt sie auf einer Tastatur auszuwählen, wer sie motorisch zu Worten verbindet, aktiviert mehr Hirnregionen und vergisst das Notierte weniger leicht. Die Langsamkeit des Vorgangs unterstützt die Gedankenfindung und fordert Konzentration.
Übrigens nicht nur bei Kindern.

Ursula Scheer.
Ausriss aus F.A.Woche
2019 Mai.
Ende.