Donnerstag, 18. März 2021

Es ist leicht, Raabe schwierig zu finden.

Aus den zwei feurigen Anfangsartikeln vom Buch „Raabe und heute“ 

stammen diese kurzen Textausrisse zur Aufmunterung, sich die vollständigen Texte zu besorgen.  


Hubert Winkels 

Raabe ist schwer erträglich, aber nicht totzukriegen

Ein Meister hochkomplexer, selbstreflexiv ironischer Erzählstrategien, mit einem ornamental gedrechselten Stil und betulich gedehnten Tonfall. Es gab Staunen und Begeisterung über die Modernität Raabes einerseits, dann aber auch über seine sehr tief in Skepsis fundierte Menschenkenntnis; über die bürgerlich verkapselte Antibürgerlichkeit Raabes; und nicht zuletzt über das Genie der ausschweifenden und doch konzisen Prosaperiode. Raabe langsam und laut zu lesen ist fast immer ein Hochgenuss. In seiner reflexiven Erzähldramaturgie kann man sich verlieren. Und ob man etwas für sein Leben in der jetzigen Zeit mitnehmen kann aus der Lektüre, wie es eine problematische frühe Raabe—Rezeption nahegelegt hat? Ein Versuch gleichwohl: In der Form gebundene Zivilisationsskepsis und Geschichtspessimismus wären nicht allein ästhetische Angebote zum intellektuellen Genuss, sie könnten auch als fordernde Vorschule der Gelassenheit dienen. 


Moritz Baßler 

Man kann es sich in Raabes Welten nicht gemütlich machen. … 

Das Problem ist ja deutlich größer und betrifft keineswegs nur diesen speziellen Autor mit seinem besonderen Stil — es betrifft die Literatur des deutschsprachigen Realismus, ja einen Großteil unseres Kulturgutes insgesamt. Der Historiker Reinhart Koselleck prägte einst den Begriff der „Sattelzeit“ für eine Periode massiven historischen Wandels (er meinte: um 1800), hinter die wir nur noch mit besonderen Werkzeugen und besonderer Ausbildung zurückblicken können (Wie hinter einen Bergsattel), weil alles davor unserer „natürlichen“, also kulturell geprägten Intuition unzugänglich geworden ist. Dieser Sattel scheint sich derzeit massiv zu verschieben: Alles was nicht im Kontext unserer neuen Medien, des Fernsehens, Films, vor allem aber des World Wide Web seinen Ort bekommt, verliert seine kulturelle Selbstverständliehkeit, die es gerade eben — also etwa in meiner Schulzeit — doch noch hatte. Fragen Sie mal einen jungen Menschen nach Marilyn Monroe, geschweige denn Hölderlin — die kennen nur noch Nerds. Die poetischen Realisten, Storm, Keller, Fontane, kommen immerhin noch im Curriculum des Gymnasialunterrichts vor, nur waren sie just dort womöglich schon immer fehl am Platze. Um ihre Erzählungen schätzen zu können, muss man schließlich, wie bei Raabe, schon einmal entsagt haben im Leben — es handelt sich mit anderen Worten um das Gegenteil von Jugendliteratur; … 

Ende.