Ein Datenschützer erzählt allen,„die nichts zu verbergen haben“, was alles möglich ist.
Auf den ersten Blick
erschien es mir ein wenig absurd, dass ausgerechnet ich einen Beitrag
zum Thema „Sammeln“ schreiben sollte, wo ich mich doch eher den
ganzen Tag damit befasse, dass möglichst wenig gesammelt wird —
zumindest, wenn es um Daten, noch genauer um personenbezogene Daten
geht. Aber beim zweiten Nachdenken wurde mir klar, dass es eigentlich
ja um zwei Seiten einer Medaille geht. So wie sich Kunst, Literatur
und sonstige Sachensammler um möglichst umfassende und vollständige
Sammlungen ihrer Wunschobjekte bemühen, so wollen wir Datenschützer
dafür sorgen, dass möglichst niemand — weder Behörde noch
Unternehmen noch Person — ein vollständiges Bild eines anderen
Menschen erlangen kann. Und dies nicht nur, weil es dessen Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung (zer)stören würde, sondern vor
allem, weil es diskriminierend, hinderlich und gefährlich werden
kann, für Einzelperson und Gesellschaft.
Tariferhöhung, Jobverlust
„Ich habe nichts
zu verbergen“, höre ich in diesem Zusammenhang oft, aber ist das
wirklich so? Natürlich ist personalisierte Werbung in erster Linie
nervig, aber die meisten von uns nehmen es noch hin, weil wir dafür
ja „umsonst“ die Dienste von facebook, google und Co. in Anspruch
nehmen dürfen. Etwas anders sähe es bei den meisten sicher schon
aus, wenn uns unsere Kfz-Versicherung den Tarif erhöht, weil wir im
letzten Jahr zu viel Alkohol gekauft haben, zu viele Punkte in
Flensburg gesammelt haben oder zu häufig mit Ausfallerscheinungen
beim Arzt oder im Krankenhaus waren. Wenn wir nicht zu
Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, weil aufgrund der von uns
aufgerufenen Webseiten eine Depression angenommen wird oder wir bei
sozialen Netzwerken zu oft die „falschen“ Seiten aufgerufen
haben.
Das sind keine
bösartigen Prophezeiungen, sondern ist alles längst möglich und
passiert. Man muss sich nur die Pläne der chinesischen Regierung zur
umfassenden und totalen Kontrolle über Internet, Videoüberwachung
und soziale Kontrolle anschauen, um zu wissen, dass die von Orwell in
1984 beschriebenen Möglichkeiten zur Totalüberwachung der
Bevölkerung längst Kinderkram im Vergleich zu den heutigen
Technologien sind. Um das zu verhindern, brauchen wir den Datenschutz
und die Datenschutzbehörden, die den Datensammlern auf die Finger
schauen und kontrollieren, dass gesammelte Daten sachgerecht genutzt
werden, gelöscht werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, und
nicht mit anderen Daten verbunden und zu sachfremden Zwecken
missbraucht werden.
Sammlung der Gehstöcke W. Raabes. ML2018 |
Algorithmen entscheiden
Dies ist angesichts
der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung unserer Lebens- und
Arbeitswelten eine echte Herausforderung, weil immer mehr Daten
anfallen und diese zu immer neuen Sammlungen verbunden werden. Längst
entscheiden nicht mehr nur Menschen darüber, wie, wo und wozu Daten
genutzt werden. Immer öfter berechnen und bewerten Algorithmen,
welche Nachrichten und Links uns in den Netzwerken erreichen, welche
Bewerbungen für eine Stelle infrage kommen, welche Lieferung zuerst
auf die Güterzüge geladen wird und welche Schlussfolgerungen über
eine Person zu ziehen sind.
Um nicht
missverstanden zu werden: Nicht alle Datensammlungen sind schädlich
oder abzulehnen, im Gegenteil, gerade im Gesundheitswesen sind sie
enorm hilfreich, in der Versorgungsforschung zum Beispiel. Es muss
aber eben sichergestellt sein, das die dafür erhobenen und genutzten
Daten anonymisiert oder verlässlich pseudonymisiert werden können.
Vielleicht zeigt
sich gerade an dieser Stelle am besten, was Sammlungen so bedeutsam
für den menschlichen Fortschritt macht. Fortschritt bedeuten
Sammlungen, egal ob real oder digital, die dazu dienen, unseren
Horizont zu erweitern, in dem wir aus Erfahrung, Anschauung und
Historie lernen. Sie dienen der (Weiter)Entwicklung und dem
menschlichen Fortschritt. Das zeigt aber auch deutlich, warum die
Datensammelwut von sozialen Netzwerken und anderen
Internetunternehmen ein Riegel, zumindest eine gute Kontrolle
vorgeschoben werden muss: Die kommerzielle
Nutzung von Daten anderer Menschen zur Gewinnmaximierung einiger
Quasi-Monopolisten dient weder den Menschen noch dem Fortschritt.
Ulrich
Kelber ist Bundesbeauftragter für den
Datenschutz
und die Informationsfreiheit.
Ausriss
aus Vier Viertel Kult.
SBK,
Herbst 2019.
Ende.