Freitag, 8. Januar 2021

Wo sammeln gefährlich wird.


Ein Datenschützer erzählt allen,„die nichts zu verbergen haben“, was alles möglich ist.


Auf den ersten Blick erschien es mir ein wenig absurd, dass ausgerechnet ich einen Beitrag zum Thema „Sammeln“ schreiben sollte, wo ich mich doch eher den ganzen Tag damit befasse, dass möglichst wenig gesammelt wird — zumindest, wenn es um Daten, noch genauer um personenbezogene Daten geht. Aber beim zweiten Nachdenken wurde mir klar, dass es eigentlich ja um zwei Seiten einer Medaille geht. So wie sich Kunst, Literatur und sonstige Sachensammler um möglichst umfassende und vollständige Sammlungen ihrer Wunschobjekte bemühen, so wollen wir Datenschützer dafür sorgen, dass möglichst niemand — weder Behörde noch Unternehmen noch Person — ein vollständiges Bild eines anderen Menschen erlangen kann. Und dies nicht nur, weil es dessen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (zer)stören würde, sondern vor allem, weil es diskriminierend, hinderlich und gefährlich werden kann, für Einzelperson und Gesellschaft.

Tariferhöhung, Jobverlust

„Ich habe nichts zu verbergen“, höre ich in diesem Zusammenhang oft, aber ist das wirklich so? Natürlich ist personalisierte Werbung in erster Linie nervig, aber die meisten von uns nehmen es noch hin, weil wir dafür ja „umsonst“ die Dienste von facebook, google und Co. in Anspruch nehmen dürfen. Etwas anders sähe es bei den meisten sicher schon aus, wenn uns unsere Kfz-Versicherung den Tarif erhöht, weil wir im letzten Jahr zu viel Alkohol gekauft haben, zu viele Punkte in Flensburg gesammelt haben oder zu häufig mit Ausfallerscheinungen beim Arzt oder im Krankenhaus waren. Wenn wir nicht zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, weil aufgrund der von uns aufgerufenen Webseiten eine Depression angenommen wird oder wir bei sozialen Netzwerken zu oft die „falschen“ Seiten aufgerufen haben.

Das sind keine bösartigen Prophezeiungen, sondern ist alles längst möglich und passiert. Man muss sich nur die Pläne der chinesischen Regierung zur umfassenden und totalen Kontrolle über Internet, Videoüberwachung und soziale Kontrolle anschauen, um zu wissen, dass die von Orwell in 1984 beschriebenen Möglichkeiten zur Totalüberwachung der Bevölkerung längst Kinderkram im Vergleich zu den heutigen Technologien sind. Um das zu verhindern, brauchen wir den Datenschutz und die Datenschutzbehörden, die den Datensammlern auf die Finger schauen und kontrollieren, dass gesammelte Daten sachgerecht genutzt werden, gelöscht werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, und nicht mit anderen Daten verbunden und zu sachfremden Zwecken missbraucht werden.

Die Sammlung der Gehstöcke Wilhelm Raabes in BS, Leonhardtstraße.
Sammlung der 
Gehstöcke W. Raabes. ML2018

Algorithmen entscheiden

Dies ist angesichts der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeitswelten eine echte Herausforderung, weil immer mehr Daten anfallen und diese zu immer neuen Sammlungen verbunden werden. Längst entscheiden nicht mehr nur Menschen darüber, wie, wo und wozu Daten genutzt werden. Immer öfter berechnen und bewerten Algorithmen, welche Nachrichten und Links uns in den Netzwerken erreichen, welche Bewerbungen für eine Stelle infrage kommen, welche Lieferung zuerst auf die Güterzüge geladen wird und welche Schlussfolgerungen über eine Person zu ziehen sind.
Um nicht missverstanden zu werden: Nicht alle Datensammlungen sind schädlich oder abzulehnen, im Gegenteil, gerade im Gesundheitswesen sind sie enorm hilfreich, in der Versorgungsforschung zum Beispiel. Es muss aber eben sichergestellt sein, das die dafür erhobenen und genutzten Daten anonymisiert oder verlässlich pseudonymisiert werden können.

Vielleicht zeigt sich gerade an dieser Stelle am besten, was Sammlungen so bedeutsam für den menschlichen Fortschritt macht. Fortschritt bedeuten Sammlungen, egal ob real oder digital, die dazu dienen, unseren Horizont zu erweitern, in dem wir aus Erfahrung, Anschauung und Historie lernen. Sie dienen der (Weiter)Entwicklung und dem menschlichen Fortschritt. Das zeigt aber auch deutlich, warum die Datensammelwut von sozialen Netzwerken und anderen Internetunternehmen ein Riegel, zumindest eine gute Kontrolle vorgeschoben werden muss: Die kommerzielle Nutzung von Daten anderer Menschen zur Gewinnmaximierung einiger Quasi-Monopolisten dient weder den Menschen noch dem Fortschritt.

Ulrich Kelber ist Bundesbeauftragter für den
Datenschutz und die Informationsfreiheit.
Ausriss aus Vier Viertel Kult.
SBK, Herbst 2019.

Ende.