Donnerstag, 10. Dezember 2020

Leselust statt Lesefrust


Was Schulen tun können, um Lesefreude zu fördern, 

und wie Texte ausgewählt werden sollten.

Übung macht den Meister — das gilt nicht nur für das Erreichen von Spitzenleistungen im sportlichen oder künstlerischen Bereich. Auch wer gute Leistungen im Lesen erzielen will, benötigt Übung und muss gewillt sein, sich mit Literatur auseinanderzusetzen.

Wer Freude am Lesen hat, liest auch häufiger und verfügt über mehr Lerngelegenheiten zum Erwerb der Lesekompetenz. Lesemuffel sind häufig in einem Teufelskreis aus Leseunlust und schwacher Lesefähigkeit gefangen. Die Ergebnisse der aktuellen Pisa—Studie zum Leseverhalten bei Jugendlichen in Deutschland sind daher alarmierend: Unter den 15 Jahre alten Schülern gibt etwa die Hälfte an, nicht zum Vergnügen zu lesen; mehr als ein Drittel halten Lesen gar für eine Zeitverschwendung.

Was ist angesichts dieser Misere zu tun?
In der Grundschule ist die Lesefreude bei vielen Kindern ohnehin noch hoch ausgeprägt. Aus der Leseforschung ist allerdings bekannt, dass sich dies ab etwa dem 11. Lebensjahr ändert und es zu einem „Leseknick“ kommt: Je älter Kinder werden, desto weniger gern lesen sie. Forscher nehmen an, dass dies damit zusammenhängt, dass Schüler — nicht zuletzt auch aufgrund der schulischen Notengebung — zunehmend selbstkritischer werden, was die eigenen Fähigkeiten zum Lesen betrifft. Aber auch der Wert des Lesens wird von älteren Schülern geringer eingeschätzt als noch in der Grundschulzeit. Insbesondere in der Pubertät bedarf es somit vermehrter Anstrengungen zur Förderung der Lesemotivation. Schüler müssen sich im Umgang mit Literatur als kompetent erleben. Vielmehr sollten insbesondere Jugendliche häufig in Kleingruppen arbeiten, die einen intensiven Austausch über das Gelesene ermöglichen. Noch wichtiger aber erscheint die Auswahl der im Unterricht gelesenen Texte. Schüler, die die im Unterricht behandelten Texte auf ihre eigene Lebens- und Erfahrungswelt beziehen können, sind auch motivierten die schulische Lektüre zu lesen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Lehrer sollten demnach eine möglichst große Auswahl potenziell interessanter Themen vergeben — wobei sich „interessant“ nicht aus Lehrersicht definiert. So zeigte eine Studie aus dem Grundschulbereich, dass Lehrer ihren Schülern bevorzugt lebensnahe Texte anboten, die Schüler aber lieber Abenteuergeschichten lesen wollten. Es ist schlicht unklar, welche Lesethemen Jugendliche überhaupt interessieren. 

Hier bleibt nur, die Schüler zu befragen, um sicherzustellen, dass der Lesestoff als spannend und bedeutsam empfunden wird.
Es muss sichergestellt werden, dass die Lesemotivation in allen Bildungsetappen den Lesefähigkeiten und Interessen der Schüler angemessen unterstützt wird. Das beginnt bereits in den Kindergärten und Vorschulen, wo die Sozialisation in die Schrift- und Buchkultur gezielt vorbereitet werden kann, etwa durch Methoden des Vorlesens, bei denen Erzieher die Kinder bewusst mit einbeziehen. Eine reine Förderung der Lesermotivation erscheint wenig vielversprechend, wenn nicht zeitgleich auch der Erwerb der Lesekompetenz selbst unterstützt wird. Insbesondere schwache Leser profitieren wenig vom Versuch, allein die Lesemotivation zu steigern. Wer Schwächen im Bereich grundlegender sprachlicher Fähigkeiten wie etwa dem Wortschatz oder der Zuordnung von Buchstaben zu Lauten hat, dem wird das Lesen weiterhin schwerfallen und wenig Freude bereiten. Eine durchgängige und systematische Sprachbildung und Vermittlung von Fähigkeiten im Lesen und Schreiben in allen Fächern sind daher unabdingbar. Nur wenn bereits vom Lesebeginn an eine sorgfältige Diagnostik der sprachlichen Stärken und Schwächen von Schülern und darauf abgestimmte Schritte folgen, haben Kinder überhaupt die Möglichkeit, die Freude am Lesen für sich zu entdecken. 
Die Förderung von Lesemotivation, Leseverhalten und Lesekompetenz von der frühkindlichen Bildung bis in die Sekundarstufe sind — insbesondere für leseschwache Kinder — als ein ganzheitlicher Prozess zu betrachten, in den die jeweiligen pädagogischen Schritte sorgfältig aufeinander abgestimmt werden müssen.

Von Alexandra Marx.
Die Autorin ist wissenschaftliche Referentin an der Deutschen Schulakademie.
Teilweiser Ausriss aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 2019.

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