Das Informationsmonopol, das wissenschaftliche Bibliotheken jahrhundertelang hatten, ist gekippt.
Wer heute rasch eine Information braucht, geht nicht mehr in eine Bibliothek, sondern benutzt eine Suchmaschine im Internet.
Das
Informationsmonopol, das Bibliotheken jahrhundertelang innehatten,
ist gekippt. Wer heute rasch eine Information braucht, geht nicht
mehr in eine Bibliothek, sondern benutzt eine Suchmaschine im
Internet. Wer etwa wissen will, welche Bilder Leonardo da Vinci
gemalt hat, findet die Antwort in Windeseile, sobald er mit der
Eingabe der Frage fertig ist.
Will man einer Frage
tiefer nachgehen, wer zum Beispiel die historische Person hinter der
Mona Lisa auf dem Gemälde Leonardos war, liefert das Internet eine
Vielzahl von Antworten, darunter wertvolles Wissen und unbewiesene
Behauptungen. In manchen Ländern zeigen die Suchmaschinen die
Debatte um die mögliche homosexuelle Orientierung des Malers und
seines Modells nur lückenhaft an. Den neuesten Stand der Forschung
aber wird man verlässlich nur unter Einbeziehung von gedruckten
kunsthistorischen Büchern ermitteln können, wie sie in einer
spezialisierten Bibliothek verfügbar sind. Denn die kunsthistorische
Forschung ist nur zum Teil über das Internet zugänglich und zum
größeren Teil ausschließlich gedruckt publiziert.
Sollte sich dieser
Befund in einigen Jahren umkehren und mehr kunsthistorische
Erkenntnisse in digitaler als analoger Form verfügbar sein, wird man
trotzdem gut daran tun, den Forschungsstand in einer Bibliothek zu
recherchieren. Denn so wie gedruckte kunsthistorische Bücher Geld
kosten, kosten auch kunsthistorische E‑Books, Zeitschriften und
Datenbanken Geld. Diesen finanziellen Aufwand bringen Bibliotheken
auf und verwandeln so das private Gut der Urheber von Erkenntnissen
in ein öffentliches Gut, das allgemein zugänglich ist. Sie halten
auch Publikationen vor, die selten genutzt werden oder in der
Beschaffung und Aufbereitung besonders teuer waren. Eine einzelne
Person wäre organisatorisch und finanziell wohl überfordert, wollte
sie sich auch nur die relevante Literatur zur Mona Lisa
zusammenkaufen.
Etwas finden, nachdem man nicht gesucht hat
Die Sammlungen der
Bibliotheken dokumentieren den Stand des Wissens auf bestimmten
Gebieten und schaffen so einen Mehrwert über die Einzeldokumente
hinaus. Ein Bibliotheksbestand kann Informationen und Anregungen
bieten – vorausgesetzt, er ist reich, einladend, zugänglich und
begünstigt Entdeckungen. Es ist ein Missverständnis zu glauben,
Wissenschaftler würden Bibliotheken nur aufsuchen, wenn sie eine
bestimmte Frage hätten. Bibliotheken funktionieren zwar auch wie
Suchmaschinen. Aber ihre schönste Aufgabe besteht darin, Orte zu
sein, wo Nutzer etwas finden, was sie nicht gesucht haben. Gute
Bibliotheken sind für Überraschungen gut. Auch im Netz kann man
Überraschungen erleben. Aber bibliothekarische Sammlungen eröffnen
Zugänge jenseits der eingespielten Suchalgorithmen und Trampelpfade
des Wissens.
Wenn Wissenschaftler
selbstbewusst verkünden: Ich brauche keine Bibliothek, ich habe
alles im Netz. Dann hört sich das an wie der Kalauer aus den
1980er-Jahren: Wieso Atomstrom? Bei mir kommt der Strom aus der
Steckdose. Wie aber kommen wissenschaftliche Publikationen ins
Internet? Zum wesentlichen Teil durch Bibliotheken! Der
Wissenschaftler mag darauf verzichten, sich selber in das Gebäude
der Bibliothek zu begeben, tatsächlich aber nutzt er
Dienstleistungen der Bibliothek, wenn er über seinen Computer auf
hochwertige elektronische Ressourcen seines Fachgebiets zurückgreift.
Bibliotheken haben sie nach definierten Prinzipien aus einer
Riesenmenge an Material ausgewählt, gekauft und in Katalogen
angezeigt, das heißt zugänglich gemacht. Außerdem reichern sie das
„Netz“ selber mit riesigen Mengen an Büchern und Zeitschriften
an, indem sie die Bestände konvertieren, die urheberrechtsfrei sind.
Bibliotheken fallen im Internet nicht besonders auf und bleiben
weitgehend unsichtbar.
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WWW Logo von Robert Cailliau. |
Das Internetangebot
weist nach wie vor riesige weiße Flächen auf. In den Geistes- und
Kulturwissenschaften erscheinen wissenschaftlich relevante
Publikationen, darunter die klassische geisteswissenschaftliche
Monographie oder relevante Primärtexte (zum Beispiel in Literatur,
Philosophie oder Musik) immer noch ausschließlich auf Papier. Die
deutschen Verlage bringen pro Jahr 73.000 gedruckte neue Bücher
heraus. Von den Zeitschriften, die die Bayerische Staatsbibliothek
abonniert, liegt nur ein gutes Drittel auch in elektronischem Format
vor. Weiterhin fehlt im Netz der größte Teil der urheberrechtlich
geschützten Publikationen des 20. Jahrhunderts. Daher ist die
Annahme, „ein Großteil“ der Literatur sei bereits digital
vorhanden, nur vertretbar, wenn man sie strikt auf die aktuelle
Literatur der Naturwissenschaften, Technik und Medizin eingrenzt. Für
die Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften ist sie falsch und
fahrlässig.
Kommerzielle Suchmaschinenbetreiber als Informationsvermittler
Das
Informationsmonopol der Bibliotheken ist tatsächlich gekippt.
Kommerzielle Suchmaschinenbetreiber sind die besseren
Informationsvermittler. Trotzdem ist niemandem zu raten, sich bei
komplexen Fragen mit Antworten zu begnügen, die von den
personalisierten und auf Gewinn ausgerichteten Ranking-Mechanismen
der Suchmaschinen vorgeschlagen werden. Außerdem darf nicht
vergessen werden, dass Suchmaschinen gar nicht alle Dokumente in der
Tiefe des Netzes erreichen. Die nichterfassten Bereiche des Internets
sind weitaus umfangreicher als die indizierbaren Informationen.
In dieser Situation
bleiben Bibliotheken unverzichtbar in ihrer Funktion als neutrale,
verlässliche und kostenfrei zugängliche Orte, an denen man sich
über den Stand des Wissens an Hand von ausgewählten Publikationen
umfassend unterrichten kann. Die Idee der Bibliothek ist nach wie vor
stark und notwendig.
Auch wenn das
Angebot unentgeltlich zugänglicher Publikationen im Netz wächst,
die Wissenschaft ist in erster Linie auf die kostenpflichtigen
neuesten Forschungsergebnisse angewiesen, die von Verlagen in Form
von Zeitschriftenartikeln, E-Books und Datenbanken angeboten werden.
Aber es ist für wissenschaftliche Bibliotheken eine große
Herausforderung, die elektronischen Publikationen in ihrer ganzen
Vielfalt und dauerhaft stabil bereitzustellen.
Die fünf größten
internationalen Verlage – Elsevier, Springer Nature,
Wiley-Blackwell, Taylor & Francis, Sage Publications
beziehungsweise American Chemical Society – veröffentlichen in
ihren Organen mehr als 50 Prozent aller wissenschaftlichen Artikel –
und zwar mit steigender Tendenz. Das gilt für die Wissenschaft
insgesamt. In einzelnen Fächern ist die Machtkonzentration dieser
Verlage noch viel höher. In den Geisteswissenschaften ist sie
vergleichsweise gering.
Die Produkte der
kleineren Verlage oder solche, die außerhalb des Buchhandels
erscheinen, sind heute in den Bibliotheken oft noch
unterrepräsentiert, weil der Bibliotheksetat eher für die großen
Paketkäufe immer derselben großen Verlage reserviert wird und der
Arbeitsaufwand für die vielen Verträge mit kleinem Volumen zu groß
ist. Auch der Zusammenschluss von Bibliotheken zu Einkaufskonsortien
trägt zu einem konformen Angebot bei. Daher sieht es in vielen
Bibliotheken so aus wie in den 1a-Lagen unserer Großstädte: von
Kiel bis Konstanz überall dieselben Handelsketten.
Will eine Bibliothek
nicht einseitig nur die Produkte der großen Verlagshäuser anbieten,
muss sie sich mit einer großen Menge von Verträgen der mittleren
und kleineren Verlage auseinandersetzen. Unterschiedliche
Nutzungsbedingungen, Lizenzzeiträume, Anzahl von simultanen
Zugriffsrechten, Bezahlwege, Berichtspflichten, Statistiken,
Gewährleistungsregelungen und viele andere Parameter sind minutiös
zu beachten, bevor die Bestände ins eigene System eingespielt und
freigegeben werden können. Die Bestimmungen sind extrem
unterschiedlich. Die Kosten sind abhängig davon, wie viele
Publikationen in dem Paket enthalten sind und wie viele Nutzer
gleichzeitig darauf zugreifen dürfen.
Solche überkomplexen
Regelungen machen das Alltagsgeschäft in den Bibliotheken teuer und
langsam. Bisher haben sich nur ansatzweise allgemein verbreitete
Geschäftspraktiken herausgebildet. Das merken auch die Nutzer von
Bibliotheken: Sie können gar nicht verstehen, dass sie Teile des
einen E-Books herunterladen und ausdrucken können, ein anderes aber
nur lesen dürfen.
Krisenanfällige Lizenzmodelle
Die Bücher und
Zeitschriften bleiben auf den Verlagsservern und werden entweder
befristet lizenziert oder dauerhaft zugänglich gemacht.
Amazon‑Kunden kennen das Modell. Kein E-Book auf ihrem Kindle
gehört ihnen wirklich. Ein Eigentumswechsel ist nicht möglich, die
Nutzungsfunktionalitäten und Archivrechte existieren nur
eingeschränkt. Bloße Zugriffsrechte haben den Nachteil, auch wieder
entzogen werden zu können. Im Jahr 2009 hat Amazon die Romane 1984
und Animal Farm des britischen Schriftstellers George Orwell von den
Kindle-Geräten ihrer Kunden einfach gelöscht. Die Firma hatte zu
spät bemerkt, dass sie die Rechte an den beiden Werken nicht besaß.
Einigen Lesern entschwand der Text während des Lesens vom
Bildschirm. Die kleine Rückerstattung, die ihnen zustand, konnte
ihren Ärger über den plötzlichen Entzug nicht abmildern.
Dieses Beispiel
macht deutlich, wie krisenanfällig das Lizenzmodell generell ist.
Die kommerziellen Anbieter wollen sich die Verfügungsgewalt über
ihre digitalen Produkte nicht aus der Hand nehmen lassen. Die
Bibliotheken aber müssen mit aller Macht versuchen, wenigstens eine
Kopie dauerhaft und zentral archivieren zu dürfen. Sonst bewegt sich
die wissenschaftliche Kommunikation weiter auf dünnem Eis. Es gehört
aber zum Kern des Verständnisses von Wissenschaft, die Vorarbeiten
anderer zitieren und das Geschriebene im Zweifel nachprüfen zu
können. Früher haben Bibliotheken es geschafft, diesen Kokon von
aufeinander verweisenden gedruckten Texten zu sichern und verfügbar
zu halten. Heute stehen sie vor einer viel größeren
Herausforderung.
Digitale Objekte
sind leicht zu verändern, permanent zu aktualisieren, ja geradezu
fluid. Manchmal handelt es sich um laufend aktualisierte
Textkonglomerate, die gar keine lineare Struktur mehr haben. Hinzu
kommt: Wissenschaftliche Texte im Netz stammen häufig von
zahlreichen Urhebern oder sind sogar nach dem Wiki-Prinzip
hergestellt. Das macht die traditionelle Sammelaufgabe der
Bibliotheken, die sich auf elektronische Publikationen erweitert hat,
zu einem Kunststück, wie den berühmten Pudding an die Wand zu
nageln. Der Medienmix, dem Bibliotheken gerecht werden müssen, wird
immer vielfältiger.
Auf einem anderen
Blatt steht, wie „dauerhaft“ elektronische Dateien überliefert
werden können. Es geht nicht darum, einfach Daten zu duplizieren und
sie an einem zweiten Ort zu speichern. Vielmehr müssen Dateiinhalte
in ihrer originalen Nutzungsumgebung authentisch verfügbar gehalten
werden. Das ist eine vertrackte Sache, weil die Betriebssysteme
ebenso veralten wie die Hard- und Software. Die Langzeitarchivierung
ist nicht nur ein technisches, sondern auch ein organisatorisches und
finanzielles Problem. Die entsprechenden Geschäftsgänge müssen in
die Abläufe der Bibliotheken integriert werden, und irgendwer muss
die Folgekosten bezahlen. Der amerikanische Experte für
Langzeiterhaltung Jeff Rothenberg charakterisiert die Lage mit einem
Scherz: „Digital documents last forever – or five years,
whichever comes first.“ – „digitale Dokumente bleiben für
immer – oder für fünf Jahre, je nachdem, was zuerst kommt“
Die gedruckten
Medien garantieren die Überlieferung vorläufig noch besser als die
digitalen. Papier lässt sich im Zweifel kostengünstiger und
einfacher restaurieren, als sich bits and bytes haltbar machen
lassen. Aber an dem Versuch und entsprechenden Pilotprojekten führt
kein Weg vorbei. Das ungelöste Thema brennt den Bibliothekaren auf
den Nägeln und wird sie in den nächsten Jahren immer stärker
beschäftigen. Noch völlig offen ist derzeit, welche Instanz die
dafür nötigen finanziellen Mittel bereitstellt, jenseits
befristeter Projekte.
Oder halten die
Bibliotheken Flüchtigkeit, Nichtverortbarkeit und Fragilität des
neuen Mediums nur irrtümlich für Riesen und kämpfen wie Don
Quijote tatsächlich gegen Windmühlen? Vielleicht empfindet die
digitale Wissensgesellschaft die Probleme, die die Bibliothekare
sehen, gar nicht als kritisch und legt auf eindeutige Referenz keinen
Wert mehr. Vielleicht verzichtet sie auf Konkretheit und
Eindeutigkeit, wenn sie dafür situative Brauchbarkeit bekommt. Dann
allerdings wäre der Auftrag der Bibliotheken auf diesem Feld ein
Anachronismus.
Verlust der Nachhaltigkeit
So fragt etwa auch
der Medienwissenschaftler Wolfgang Ernst: „Ist das Konzept der
Nachhaltigkeit nicht längst schon Symptom einer nicht mehr auf
Gedächtnis fixierten gesellschaftlichen Akzeptanz?
Die Nutzer des
Internets nehmen den raschen Verfall von Webseiten und damit
Gedächtnisverlust in Kauf – für den gegenüber den
bibliothekarischen Traditionen des Abendlands dramatisch eskalierten
Vorteil, den dieses System als unverzüglicher Zugriff auf ungeheure
Wissensmengen bietet. Für den Genuss der nahezu unverzüglichen
Verfügbarkeit von Online‑Wissen im Web wird der Verlust seiner
Nachhaltigkeit in Kauf genommen.“
Vielleicht haben wir
nicht genug Fantasie, uns eine Gesellschaft vorzustellen, die ohne
die bindende Kraft des Gedächtnisses auskommt? Das kann sich der
Physiker und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar überhaupt nicht
vorstellen und hat seine Antwort auf das Gedankenexperiment, das
kulturelle Gedächtnis zu verlieren, in seinem Buch Nächste Ausfahrt
Zukunft in ein prägnantes Bild gefasst: „Der kulturelle Blackout
wäre subtiler als der plötzliche Ausfall von Elektrizität, doch in
seinen Konsequenzen würde unsere Gesellschaft den Halt verlieren.
Diese eminent wichtigen Brücken in die Vergangenheit halten die
Gesellschaft zusammen. Die lebendige Vergangenheit gleicht dem
Schwert und den schweren Ballasttanks eines großen Segelschiffs.
Versteckt unter der Meeresoberfläche verleihen sie dem Boot
Stabilität, wenn der Wind in die Segel greift. Eine
vergangenheitsblinde Kultur wäre den Stürmen schutzlos
ausgeliefert. Bei Flaute merkt man vielleicht nichts davon, doch
sobald der Wind sich erhebt, erwirken die Naturkräfte das Kentern.“
Vorerst lassen sich
die Bibliotheken nicht darin beirren, die Probleme der im Netz
bereitgestellten Publikationen pragmatisch anzugehen. Sie tragen
entscheidend dazu bei, den freien Zugang zu Informationen
herzustellen und möglichst langfristig zu sichern. Auf ihren eigenen
Servern bieten sie Plattformen für unendlich viele
Netzpublikationen. Anders gesagt, sie bauen große Sammlungen auf, zu
denen analoge und digitale, gekaufte und freizugängliche Dokumente
gleichermaßen gehören. Und wenn Sammlungen ihr Eigentum sind,
können sie versuchen, sie dauerhaft zur Verfügung zu stellen.
Mit Auswahl und
Speicherung wäre jedoch eine einzelne Bibliothek, auf sich gestellt,
überfordert, weil die Aufgabe viel zu groß ist. Die Fokussierung
auf die eigene Sammlung reicht heute nicht mehr aus. Die eigene
Sammlung muss als Teil eines Netzwerks begriffen werden. Bibliotheken
müssen heute viel arbeitsteiliger vorgehen und viel mehr miteinander
kooperieren, als dies in der Welt der gedruckten Literatur notwendig
war. Bibliotheken müssen Bestand halten, aber sie funktionieren nur
noch als System.
Viele neue
Bibliotheksbauten
Auch wenn man
zugesteht, dass es Bibliothekare geben sollte, die sich um die
Auswahl, Finanzierung, Erschließung und Vermittlung von
Publikationen kümmern, ist die Frage berechtigt, ob nicht irgendwann
Bibliotheken als reale Räume überflüssig werden. Wenn es
vollkommen egal ist, wo die Server für die digitalen Dienste stehen,
braucht es vielleicht gar keine stationären Bibliotheken mehr?
In offensichtlichem
Widerspruch zur zunehmenden Bedeutung der digitalen Dienste entstehen
auch in der Gegenwart großartige neue Bibliotheksbauten. Die besten
Architekten auf der ganzen Welt wetteifern in Entwurf und Gestaltung
von Bibliotheksgebäuden. Vielleicht ist es für sie gerade deshalb
eine so schöne Herausforderung, weil neue Arbeitsformen in das
traditionelle Gefüge einer Bibliothek integriert werden müssen.
Oder können sich Architekten für diese öffentliche Bauaufgabe
einfach begeistern, weil sie an die Bibliothek glauben? Erinnert sei
nur an wenige herausragende Beispiele von deutschen
wissenschaftlichen Bibliotheken neueren Datums:
- Bibliothek der Technischen Universität Cottbus (Architekten: Herzog & de Meuron)
- Studienzentrum der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar (Hilde Barz-Malfatti, Karl-Heinz Schmitz)
- Philologische Bibliothek der Freien Universität Berlin (Norman Foster)
- Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der Humboldt-Universität in Berlin-Mitte (Max Dudler)
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Prof. Biegel in seiner Bibliothek. |
Dabei wandelt sich
das Aussehen von Bibliotheken erheblich. Keine erinnert mehr an die
Ehrfurcht gebietenden Büchertempel des 19. Jahrhunderts mit ihren
riesigen Magazinen. Viele sind äußerlich gar nicht mehr als
Bibliotheken erkennbar. Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar
verwahrt den größten Teil ihres Buchbestands weder im Rokokosaal
noch im modernen Studienzentrum, sondern verborgen in einem
Tiefmagazin. Es liegt unmittelbar vor dem Historischen
Bibliotheksgebäude und ist von außen nicht erkennbar. Die Besucher
laufen ahnungslos über eine Million Bücher hinweg, wenn sie sich
zum Eingang am Platz der Demokratie begeben.
Neue Bedürfnisse
Die Leser in
Bibliotheken kommen heute mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen
ins Haus: Von Studenten, die nur einen W-LAN-Anschluss brauchen oder
sich mit Kommilitonen ein Thema erarbeiten wollen, bis hin zu
Forschern, die vor Ort mit Sondersammlungen arbeiten. Längst gibt es
nicht mehr nur Leihstelle und Lesesaal, sondern unterschiedliche
Aktivitätszonen:
- Lounges mit bequemen Sitzmöbeln
- Plätze im Bibliothekscafé
- Veranstaltungs- und Schulungsräume
- Räume zum Ausprobieren von Technik
- Bereiche für Gruppenarbeit
- Arbeitsplätze für Eltern mit Kind
- schallgeschützte Abteile zum Telefonieren
- Studios für audiovisuelle Medien
- Plätze für Information, Kurzrecherche und zum Anlesen
- Stillarbeitszonen für konzentriertes Lesen und Schreiben inmitten fachlich geordneter Freihandbestände
Selbst der schon
häufig totgesagte klassische Lesesaal bildet oft wieder das
Herzstück der neuen Bibliotheken, weil seine Arbeitsatmosphäre so
beliebt ist.
Die Bibliotheksräume
erhalten auch durch neue Möblierungskonzepte Aufenthaltsqualität
und Eigenart – sofern sie nicht schon so überlaufen sind, dass die
Nutzer doch gerne schnell wieder nach Hause streben. An den
Nutzerbereichen entscheidet sich, ob eine moderne Bibliothek
„funktioniert“.
Es ist kaum
vorstellbar, dass Bibliothekare künftig wie Energieberater in schwer
lokalisierbaren Büros sitzen und Auskünfte nur noch über Skype
erteilen. Die physischen Räume der Bibliothek sind essenziell,
selbst wenn Bibliotheken auf Fächer wie Naturwissenschaften, Technik
und Medizin ausgerichtet sind, in denen schon vieles online zur
Verfügung steht. Bibliotheken bieten die Möglichkeit zur Beratung,
zur Präsentation von Medien und zu sozialer Interaktion.
Bisher hat sich die
räumliche Anordnung des Wissens, wie sie in den systematisch nach
Fachgebieten aufgestellten Büchern zum Ausdruck kam, als äußerst
nützlich erwiesen. Das einzelne Objekt wird in einem geordneten
Kontext präsentiert. Der Nutzer muss seinen eigenen Körper in
Bewegung setzen, muss suchen und zugreifen, um an das Dokument zu
gelangen. Dadurch wird der Ort des Wissens mitsamt seiner Umgebung
unbewusst gespeichert und bestenfalls mit der Erkenntnis bei der
Lektüre verknüpft. Der Nutzer kann in seiner Erinnerung darauf
zurückgreifen, so wie er nach dem Lesen eines Buches oft noch
angeben kann, auf welchem Teil einer Seite ein besonders
eindrucksvoller Gedanke gestanden hat. Funktioniert die Erinnerung
genauso gut, wenn auf dem Display des immer gleichen technischen
Gerätes bloße Zeichen registriert werden?
Die vibrierende
Stille konzentriert arbeitenden Menschen
Der
Medienwissenschaftler Markus Krajewski sieht den physischen Ort der
Bibliothek nicht in Frage gestellt: „Als intellektuelle
Infrastruktur für geistige Arbeit, zumindest im
kulturwissenschaftlichen Kontext, kann man auf die Abundanz der
Texte, die Reizüberflutung und das Zuviel an Informationen, wie es
in ihrer Gesamtschau nur die große Büchersammlung bietet, nicht
verzichten. Vom Reiz des Haptischen, dem Blättern im Vergilbten und
dem Finden des Verstellten ganz zu schweigen.“
Der nach
Fachgebieten geordnete und gut gepflegte freizugängliche Bestand an
Büchern bietet zumindest in den Kultur-, Geistes- und
Sozialwissenschaften nach wie vor den besten Anregungsfaktor.
In den Bibliotheken
geht es nicht nur um einen Rezeptionsvorgang, sondern auch um
produktives Verarbeiten des Gelesenen in der Form des Schreibens. Es
ist eine ganz eigenartige Erfahrung, wenn dieses Verarbeiten inmitten
einer Gesellschaft vieler anderer Kopfarbeiter geschieht. Wer
beispielsweise einmal im Main Reading Room der New York Public
Library an einem der Tische aus weißer Eiche gesessen hat, wird die
vibrierende Stille von 600 anderen konzentriert arbeitenden Menschen
als stimulierend empfunden haben. Man befindet sich in einem
öffentlichen Raum und doch in einer intimen Situation. Es ist ein
Ort, an dem ein vielstimmiges stummes Gespräch stattfindet, ein
Denkraum. Das alles würde nicht so gut gelingen ohne die großartige
Architektur. Der Leser an seinem Platz unter der Kassettendecke mit
den riesigen Kronleuchtern empfindet sich als Teil einer kulturellen
Gemeinschaft, die diesen Raum deshalb so prächtig ausgestaltet hat,
weil sie das Bemühen um Erkenntnis wertschätzt.
Bibliotheken sind Orte der geistigen Auseinandersetzung.
Diese Funktion sinnlich zu
erleben, versuchen sogar die flüchtigen Besucher, die nur einen
Blick in den Lesesaal werfen dürfen und doch viel zu sehen haben.
Weshalb sonst erleben die Bibliotheken auch einen touristischen Boom?
Das gilt für die New York Public Library, die Klosterbibliothek
Ottobeuren, das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum der
Humboldt-Universität Berlin wie für die Herzogin Anna Amalia
Bibliothek in Weimar. Der dortige Rokokosaal zum Beispiel wird jedes
Jahr von 90.000 Personen besucht. Wenn die räumlichen Kapazitäten
ausreichten und das historische Gebäude nicht so fragil wäre, wären
es vielleicht drei- oder fünfmal so viele. So gehen viele Menschen
enttäuscht am Haus vorbei, weil sie keine Eintrittskarte mehr
bekommen können. Das große Interesse an dieser Bibliothek spricht
für das Bedürfnis nach einem Ort, an dem man die historische
Dimension der kulturellen Überlieferung spüren und sich selber als
Teil einer République des Lettres imaginieren kann. Im Gegensatz zu
den austauschbaren Räumen, die sonst unseren Alltag bestimmen, den
Einkaufszentren, Verkehrszonen, Fernsehstudios oder Computerwelten,
ist der Aufenthalt an einem solchen authentischen Ort nicht
belanglos.
Der Soziologe Ray
Oldenburg hat die Bedeutung von „Dritten Orten“ herausgearbeitet.
Neben dem ersten Ort Wohnung und dem zweiten Ort Arbeitsplatz oder
Ausbildungsstätte fänden sich Menschen auch an Dritten Orten
zusammen, wo sie verweilen und miteinander kommunizieren könnten.
Eine solche Funktion hätten etwa Cafés, Friseursalons oder
Buchläden. Dritte Orte seien wichtig, um dem schwindenden Gemeinsinn
in den modernen Gesellschaften entgegenzuarbeiten. Aber Oldenburgs
Dritte Orte sind alles Orte des Konsums. Dabei läge es nahe, der
Bibliothek die Rolle eines Dritten Ortes zuzuschreiben und viele
Bibliothekare postulieren dies inzwischen mit guten Gründen. Denn
die Bibliothek besitzt den besonderen Vorteil, dass in ihren Räumen
die kommerziellen Interessen außer Kraft gesetzt sind. An welchen
öffentlichen Orten ist das sonst der Fall? Die Bibliothek ist also
nicht nur weltanschaulich „neutral“, sondern neutral auch in dem
Sinne, dass sie jenseits des ökonomischen Kalküls angesiedelt ist.
Die gesellschaftlich
integrative Rolle von Bibliotheken
In wieder anderer
Perspektive gilt die Bibliothek als „Treffpunkt mit schwacher
Intensität“, weil hier die Begegnungen nicht so formalisiert wie
im Arbeitsleben und nicht so intensiv wie im privaten Bereich seien.
Dadurch entstehe eine Offenheit für Kontakte und Gespräche, die es
anderswo nur selten noch gäbe. Auch das „soziale Kapital“ der
Bibliothek wird herausgearbeitet. Die Bibliothek zeichne sich als
eine Arena aus, in der gesellschaftlicher Pluralismus erfahren und
die Einübung von Respekt vor Andersheit eingeübt werden könne. Der
Bibliothek kommt in allen Konzepten eine gesellschaftlich integrative
Rolle zu. Es sind Versuche, ihre ausgeprägt soziale Funktion genauer
zu beschreiben.
Die Menschen kommen
heute aus anderen Gründen in die Bibliothek als früher, weil ein
großer Teil ihrer Informationsbedürfnisse durch das Web und die
Mobilgeräte erfüllt werden kann. Aber die Welt des Wissens lässt
sich nicht ausschließlich auf einem Tablet organisieren. Sie hat
noch andere Dimensionen, auch kognitive und soziale Komponenten.
Selbst wenn alle Texte maschinenlesbar gemacht sind, werden die Leser
nicht wie Maschinen funktionieren. Der reale Ort Bibliothek bleibt,
unabhängig von den Medien, die er zugänglich, und jenseits der
Begegnungen, die er möglich macht, bedeutungsvoll als ein
öffentlicher Ort des Denkens.
Zusammenfassend kann festgehalten werden:
Die Idee der Bibliothek besteht in der
Verantwortung für die Verfügbarkeit von Veröffentlichungen. Ihr
Zweck ist, Auskunft zu ermöglichen über den jeweils erreichten
Stand der Erkenntnis. Ihr Mittel zum Zweck sind vernetzte Sammlungen
mit analogen und digitalen Publikationen. Die Sammlungen müssen in
ihr Eigentum übergehen, damit sie dauerhaft zur Verfügung gestellt
werden können. Im Unterschied zu früher kann die Idee der
Bibliothek nur noch durch Spezialisierung und Zusammenarbeit, also im
System der Bibliotheken realisiert werden.
Die Idee der
Bibliothek wird mit den Chancen, die die elektronischen Medien
bieten, noch machtvoller werden. Wichtig ist jetzt, dass in
Deutschland die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die
für das Gedeihen der Bibliotheken nötig sind.
Die Merkmale des
Internets sind Flüchtigkeit, Nicht-Hierarchie, Ubiquität und
Vernetzbarkeit von allem und jedem. Die Merkmale von Bibliotheken
sind Dauer, Ordnung, Kontext und Konzentration.
Gepriesen sei die
Zeit, die über beides verfügt und es kombinieren kann. Das Signet
des berühmten venezianischen Druckers Aldus Manutius aus dem Jahr
1502 zeigt einen Anker, um den sich ein Delphin windet. Das Bild
passt gut in unsere Zeit: Der Delphin steht für die Geschmeidigkeit
des Internets, der Anker für die Beständigkeit der Bibliothek.
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Druckersignet von Aldus Manutius, 1502. |
Deutschlandfunk 2017
Michael Knoche
schreibt in seinem umfassenden Essay über
die Herausforderungen des
Internets, unvorstellbare Kosten von wissenschaftlichen
Publikationen,
den Mehrwert durch Verlage und über Sinn und Grenzen
von Open-Access-Systemen.
Michael Knoche war
bis 2016 Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar.
Sein
Buch „Die Idee der Bibliothek und ihre Zukunft“ erschien 2018.
Ende.