Der Büchersammler zwischen Wissensdurst und Buchmeterhunger.
Wahn, Eitelkeit,
Halbbildung. Der Vorwurf an den Büchernarren ist einfach: Er hat
Unmengen an Büchern, aber er liest sie nicht und versteht sie nicht.
Wer Bücher sammelt, wehrt sich auch 500 Jahre später gegen
dieselben Vorurteile und Vorwürfe.
„Haben Sie die alle gelesen?“
Es ist die häufigste
Frage, wenn Besucher meiner Bibliothek die Regale bestaunen, in denen
die Bücher in der Regel zwei-, im besten Fall dreireihig stehen.
Natürlich habe ich von den 35.000 Büchern nicht alle gelesen —
aber wie vertreibt man die Kälte, die sich kurz über das Gespräch
gelegt hat, weil der Fragende meist just selbst bemerkt hat, wie —
mit Verlaub — tumb seine Frage war. In den ersten Jahren antwortete
ich noch mit „Die meisten zweimal“‚ und das Eis war gebrochen.
Als sich aber einmal ein Gast anschickte, mir diese dreiste Flunkerei
zu glauben, gab ich auf. Jetzt antworte ich im Brustton der
Überzeugung: „Ich habe sie alle geschrieben.“
Bildungsbürgerlich verankert
Die Frage kenne
nicht nur ich; jeder Büchersammler muss Ähnliches beantworten. Wer
beruflich mit Büchern zu tun hat, trägt ein größeres Risiko, auch
privat dem Buch zu verfallen. Lektoren und andere Mitarbeiterinnen in
den Verlagen, Buchhändlerinnen und Bibliothekare. Lehrkräfte an
Schulen und Hochschulen, vielleicht Politiker und Journalisten. Es
ist mit Ausnahmen schon eine recht bildungsbürgerliche Gesellschaft,
die ihre Freizeit damit verbringt, Bücher aufzuspüren und der
eigenen Bibliothek einzuverleiben; nicht ohne vorher die Neuzugänge
angesehen und zugeordnet zu haben. Die meisten würden von sich nicht
als Büchersammler sprechen aus Angst, es könne tatsächlich jemand
glauben, sie interessierten sich nur für den Gegenstand und nicht
für den Inhalt. „Bibliophil“
– „Bücher liebend“ – klingt da großzügiger und gelehrter.
Bücherehre klingt noch respektvoller.
Buchaffin
kann man sein, eine Nähe zum Buch verspürend, sich zu Büchern und
Bibliotheken hingezogen fühlen, das passt auch noch. Büchersammler
nennt man sich erst, wenn man das als Arbeit am kulturellen
Gedächtnis, an der Förderung von Meinungsfreiheit und Pluralismus
oder mit sonst einem überzeugenden gesellschaftspolitischem Vorhaben
verklären kann.
Man könnte auch
pathologisch an die Leidenschaft des Büchersammelns herangehen und
von Bibliomanie sprechen.
Der Bibliomane nimmt alle Bücher mit, derer er habhaft werden kann,
ohne sich finanziell zu ruinieren (und manchmal auch das). Es ist –
zumindest beim Großteil der Büchersammler – nicht sinnentleertes
Aneinanderstellen von Publikationen, um bald einen weiteren
Regalmeter mit Büchern gefüllt zu haben. Der Sammler ist in der
Lage, auch entfernteste Themengebiete interessant zu finden. Einer
der ersten berühmten Bibliomanen ist der Engländer Sir Thomas
Phillipps (1792—1872). Er bezeichnete sich selbst
als biblioman und konnte im Laufe seines Lebens 60.000 Manuskripte
zusammentragen.
Braunschweigs
gesammelte Bücher
Es lässt sich nicht
übers Büchersammeln schreiben, ohne Braunschweig gleich mehrfach
einen Besuch abzustatten. Mit Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel
regierte das Herzogtum einer der eifrigsten und begeisterten
Büchersammler, den die deutsche Regentengeschichte kennt. Seine
Büchersammlung bildet den Grundstock für die
Herzog-August-Bibliothek, die im ln- und Ausland als eine der
ältesten unversehrt erhaltenen Bibliotheken der Welt angesehen ist.
Gottfried Wilhelm Leibniz hat diese Bibliothek von 1691—1716
geleitet, im gleichen Amt finden wir von 1770—1781 Gotthold
Ephraim Lessing.
Gerd Biegel et alii. |
Der Blick braucht
gar nicht weit zurückzugehen. Eine Kulturgeschichte des
Büchersammelns der letzten 50 Jahre in Deutschland würde ohne zwei
Namen nicht auskommen, die mit Stadt und Land Braunschweig eng
verbunden sind. Und dabei stehen Paul Raabe (1927—2013) und
Gerd Biegel, will man sie zwischen Bücherehre und Bibliomanie
verorten, denkbar weit voneinander entfernt. Hier der Direktor der
Herzog-August-Bibliothek, „als leidenschaftlicher Bibliothekar,
anerkannter Forscher und Publizist sowie als erfolgreicher
Kulturmanager“ mit der Leibniz-Medaille der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften für das
Lebenswerk ausgezeichnet, der die Bücher schätzte und ehrte.
Verfallen war er ihnen nicht, sie schienen zuweilen eine Bürde:
„Allerdings habe ich durchaus auch die Schwierigkeit in meinem
Leben erfahren, was es bedeutet, als Bibliothekar zu sammeln und
privat noch Bücher anzuschaffen.“
Auf der anderen
Seite Gerd Biegel, Gründer des Instituts für Braunschweigische
Regionalgeschichte, der bei allem Alltagsgeschäft das Träumen nicht
aufgegeben hat.
Seinen Traum träumen
viele Büchersammler und Sir Thomas Phillipps hat den Traum im 19.
Jahrhundert in Worte gekleidet: Von jedem jemals erschienenen Buch je
ein Exemplar in die eigene Bibliothek stellen zu können. Dass das
unmöglich ist, weiß natürlich auch Gerd Biegel. Aber so nah wie er
ist noch niemand an das Luftschloss herangekommen: Mit seinen 230.000
Büchern besitzt er die größte Privatbibliothek Norddeutschlands.
Die Zahl ist wohlgemerkt geschätzt. Aber Zweifler lädt der
Braunschweiger Bibliomane herzlich zum Nachzählen in seine
Bibliothek ein.
Dr.
Ulrich Brömmling.
Germanist,
Scandinavist in Braunschweig.
Ausriss
aus Vier Viertel Kult, SBK
Herbst
2019
Ende.