Donnerstag, 9. Januar 2020

Mit allen Sinnen gelesen?


Im Normalfall ist nicht allein das Auge an Prozessen der Informationsaufnahme beteiligt, sondern der ganze Körper.

Mit allen räumlichen und körperlichen Sinnen wird beim Lesen memoriert – wir nehmen es nur nicht so dezidiert wahr. Eigentlich kann dies keine so grundstürzende Erkenntnis sein, da ja alles mit allem zusammenhängt, jedenfalls hat die Wissenschaft unter dem englischen Begriff „Embodied Cognition“ einen Fachbegriff dafür.
So ist der entspannte Körper am Strand, im Sofa, im Bett immer dabei, Signale von außen und vom zu Lesenden zu verknüpfen und zu erinnern. 130 Leseforscher aus ganz Europa haben in der „Stavanger Erklärung“ dazu geschrieben, dass es einen Unterschied in Lesen und Behalten gibt, ob wir digital am Bildschirm oder analog im Papier lesen.

Schon das Gewicht des Mediums ist ein Faktor (oder ganz modern gesagt, ein „Datenpunkt“), die Glätte der Oberfläche, die Laufrichtung der Augen (eine Bildschirmseite, Buchdoppelseiten), die zeitliche Tastinformation, wenn der linke Buchdeckel langsam an Dicke zunimmt, Geruch von Farblösungsmitteln, Geräusche von Lüftern, einlaufenden System- Appnachrichten oder die Bequemlichkeit des restlichen Körpers, die durch Umblättern oder schiefer Lage immer wieder verändert wird – all dies wird zum (!) Gelesenen mitgespeichert.

Das digitale Lesen hinterlässt nach Ansicht der Forscher also klar weniger Erinnerungen, die mit dem Text verbunden werden. 
Das Lesen von Digitalem im Vergleich zum Lesen von Gedrucktem wäre wie das Gehen mit verbundenen, anstatt offenen Augen. Für den sprechenden Fußgänger mit verbundenen Augen erfolgt die Verarbeitung und Erinnerung auf seinem Weg ausschließlich über die inneren Augen, rein mental ohne bildliche Unterstützung. Der Sehende wird das Gesprochene mit z. B. Gartenzäunen, Hausfassaden, Zebrastreifen verbinden. Alle diese Anker hinterlassen eine Spur im Gedächtnis – je weniger Anker, desto weniger Abbildung, die erinnert werden könnten. Somit ist digitales Lesen abstrakter.

Womit / worin ich lese, macht also etwas mit unserer Erinnerung und, in seiner Gesamtheit viel weiter gedacht, auch mit unserer Wertschätzung von jedem Einzelnen, was wir je gelesen haben. Nach dieser tiefschürfenden Erkenntnis bleibt nur noch die Frage zu klären: cui bono?
Ende.